Medizinethiker über Sterbehilfe: „Der Bundestag ist eingeknickt“
Menschen in ausweglosen Leidenszuständen werden allein gelassen, kritisiert der Medizinethiker Ralf Jox. Das gelte auch für Sterbehelfer und hilfswillige Ärzte.
taz: Herr Jox, warum hadern viele so mit dem Thema Suizidhilfe?
Ralf Jox: Umfragen zeigen immer relativ stabil, dass 70 bis 80 Prozent der Menschen dafür sind, die Möglichkeit des assistierten Suizids am Lebensende zu haben. Zugleich spricht das Thema natürlich die Emotionen an und weckt auch Ängste – insbesondere, wenn man noch nie mit Menschen konfrontiert war, die diese Option für sich ernsthaft in Betracht gezogen haben. Daraus erklärt sich eine diffuse Angst, allein schon die Möglichkeit könnte ansteckend wirken und plötzlich könnten sich viele das Leben nehmen wollen.
Jahrgang 1974, ist Professor für Medizinethik und leitender Arzt der Geriatrische Palliative Care am Universitätsspital CHUV und an der Universität Lausanne.
Anliegen des Gesetzentwurfs unter Federführung des SPD-Abgeordneten Lars Castellucci war, eine „Normalisierung der Selbsttötung“ zu verhindern. Die Gefahr sehen Sie also nicht?
Nein, überhaupt nicht. Das zeigen Daten aus Oregon in den USA, wo es seit 25 Jahren erlaubt ist, und Erfahrungen aus über 30 Jahren in der Schweiz. Der assistierte Suizid bleibt etwas, das manche Menschen in ganz bestimmten Situationen in Betracht ziehen und dann sehr ernsthaft erwägen. Vor allem wenn sie eine schwere, unheilbare Erkrankung haben, die absehbar zum Tode führt. Wir wissen zudem, dass manche Betroffene diese „Notfalltür“ des assistierten Suizids dann gar nicht nutzen. In diesen Fällen reicht es ihnen, zu wissen, dass es die Option gäbe.
Eine Sorge im Entwurf war, alte oder kranke Menschen könnten sich zum Suizid gedrängt fühlen.
Ich sehe überhaupt nicht, dass ein Druck ausgeübt würde auf besonders verletzliche Menschen. Diejenigen, die sich für diesen Weg entscheiden, sind durch die Bank sehr kontrolliert und selbstbestimmt, haben häufig einen hohen Bildungsgrad und waren es immer gewohnt, über ihr Leben selbst zu bestimmen.
Der Entwurf wollte die sogenannte geschäftsmäßige Suizidhilfe wieder strafbar machen.
Dieser Entwurf war das alte Gesetz, das vom Bundesverfassungsgericht als grundgesetzwidrig verworfen wurde, im neuen Gewand. Er war im Grunde unehrlich: Er tat so, als würde er den Zugang zur Suizidhilfe regeln, doch eigentlich wollte er diese unmöglich machen. Man türmte zu hohe Hürden auf.
Was meinen Sie damit?
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine unheilbare Krebserkrankung und noch wenige Monate zu leben. Sie haben alles geregelt, mit ihrem Leben abgeschlossen und wollen das ihnen bevorstehende Leiden abkürzen. Nach diesem Entwurf hätten Sie zunächst zu einem Psychiater gemusst, dann drei Monate warten, erneut beim Psychiater vorsprechen, dann noch zu einer Beratungsstelle und erneut zwei Wochen warten. Danach haben Sie womöglich schon die Fähigkeit verloren, selbst über ihr Ende zu entscheiden. Ein solcher Spießrutenlauf wäre unzumutbar gewesen. Psychiater sind zudem bekanntermaßen die Arztgruppe mit der stärksten Ablehnung des assistierten Suizids. Nicht wenige halten jeden Todeswunsch für grundsätzlich krankhaft und unfreiwillig.
Der zweite Gesetzentwurf, unter Federführung von FDP-Politikerin Katrin Helling-Plahr, betonte, dass nicht jede psychische Erkrankung die Entscheidungsfähigkeit einschränkt. Wäre das ein Fortschritt gewesen?
Eindeutig ja! Psychische Erkrankungen sind relativ häufig, und es gibt viele Formen, die die freie Urteilsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Stellen Sie sich vor, jemand hat eine schwerste Multiple Sklerose und hat zusätzlich irgendwann eine Angststörung als Diagnose bekommen. Und dann stellt man die entscheidenden Fragen: Sind Sie zur freien Willensbildung fähig? Haben Sie sich das gut überlegt, es gut erwogen? Kennen sie die Alternativen? Wenn das alles bejaht wird, wäre das für mich eine Form von Diskriminierung psychisch Kranker, den Zugang zum assistierten Suizid zu verwehren.
Nun hat der Bundestag für keinen der beiden Entwürfe gestimmt. Die Suizidhilfe bleibt also weiter ungeregelt. Wie bewerten Sie das?
Der Bundestag hat sich davor gedrückt, die Sterbehilfe endlich verfassungskonform zu regeln. Er ist eingeknickt vor dem Chor der Stimmen aus der Fundamentalopposition, die auf Zeit spielen wollen. Man rechnet damit, dass die Ärzteschaft weiterhin restriktiv mit dem Thema Suizidhilfe umgeht. Das Problem dabei: Es gibt immer mehr Menschen, die in ausweglosen Leidenszuständen diese Art der Sterbehilfe ernsthaft ins Auge fassen. Sie werden alleingelassen, ebenso wie die vereinsmäßigen Sterbehelfer und hilfswilligen Ärzte in ihrer Rechtsunsicherheit.
Was bedeutet das in der Praxis?
Gegenwärtig ist die Hilfe zur freiverantwortlichen Selbsttötung zwar erlaubt, aber das Betäubungsmittelgesetz macht es beinahe unmöglich, die dafür geeigneten Mittel auf legale und angemessene Weise zu erhalten. Und es ist nicht zu erwarten, dass die Ärztekammern aktiv werden und berufsrechtliche Regelungen aufstellen, wie das in der Schweiz der Fall ist. Die Sterbehilfe-Vereine schalten und walten nach Gutdünken, aber es gibt kaum Transparenz und Einheitlichkeit. Fazit: Der Bundestag nimmt seine gesetzgeberische Aufgabe nicht wahr, während um uns herum ein Land nach dem anderen Gesetze erlässt – erst Spanien, dann Österreich, nun auch Portugal. Eine Regelung wäre nicht übereilt gewesen, sie ist überfällig.
Der Entwurf von Helling-Plahr und anderen hätte das geändert?
Dieser Entwurf wäre eine vernünftige Regelung gewesen. Man konnte erkennen, dass hier Sachverstand und Realitätsnähe im Spiel waren. Der Gesetzentwurf begann nicht mit Strafen und Sanktionen, sondern mit der Formulierung von Rechten: dem Recht des Bürgers auf Hilfe zur Selbsttötung und dem Recht des anderen, diese Hilfe zu gewähren. Sorgfältig wurden Regeln eingeführt, um eine freie, selbstbestimmte, wohlerwogene Entscheidung sicherzustellen. Beratung wurde nicht als ideologische Hürde, sondern als ergebnisoffene Unterstützung verstanden.
Sie hätten hier gar keine Kritik gehabt?
Nun, der Entwurf sah auch die Bürokratie staatlicher Beratungsstellen vor, die ich etwas übertrieben fand. Doch die meisten Menschen wären hier unter die sogenannte Härtefallregelung gefallen: Wo jemand existentiell leidet, insbesondere durch eine unheilbare, fortgeschrittene Erkrankung, da hätte es nicht die Beratungsstelle gebraucht, da hätten zwei Ärzte unabhängig voneinander die Situation bewerten, den Betroffenen beraten und ihm den Zugang zum assistierten Suizid ermöglichen können.
Sie erwähnten die Gegner in der Ärzteschaft: Versuchen Sie, Kolleg*innen von Ihrer Haltung zu überzeugen?
Ich versuche zu begründen, aber akzeptiere die vorhandene Meinungspluralität. Das ist ein ganz wichtiger Grundsatz, auch in jeder Regelung in anderen Ländern, dass es Ärzten freigestellt wird, ob sie dies aus Gewissensgründen ablehnen. Das hat auch das Verfassungsgericht gesagt: Diese Freiheit muss genauso gewährleistet sein wie die der Ärzte, die sich vorstellen könnten, in bestimmten Situationen einen Suizid zu begleiten.
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