Medien in Russland: Gewalt, Lügen und Zynismus
Eine Serie auf Onlineplattformen über Jugendkriminalität zu Zeiten der Perestroika bricht alle Zuschauerrekorde. Nun soll sie verboten werden.
Es ist die Zeit der Perestroika – eine Zeit, in der Gewissheiten zusammenbrechen, in der die Vergangenheit nicht mehr zählt, die Gegenwart unsicher ist und die Zukunft völlig vage. „Ich habe es satt, ein Tschuschpan zu sein“, sagt Andrei schließlich vor einer Gruppe Gleichaltriger im Schnee. „Tschuschpan“ lässt sich nicht übersetzen, es ist ein Codewort für „Opfer“.
Andrei erlebt keinen Tag, an dem er nicht abgezogen, erniedrigt, geschlagen wird. Er will ein cooler Junge sein. Ein „Pazan“. Will nicht verprügelt werden, sondern selbst prügeln. Er lernt es schnell, kaum hat ihn sein neuer Freund Marat (Rusil Minekajew) zur Jugendbande seines Bruders Wowa (Iwan Jankowski) mitgenommen, eines gerade zurückgekehrten Afghanistansoldaten. Für Andrei gibt es kein Zurück mehr, wie für keinen der Jugendlichen, die Schutz suchen, stattdessen jedoch Tod und Verderben finden.
Der russische Regisseur Schora Kryschownikow hat die wahre Geschichte um die Jugendkriminalität in Kasan, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tatarstan, Ende der 1980er Jahre in düstere, ja grausame Bilder seiner achtteiligen Serie „Das Wort des Jungen. Blut auf dem Asphalt“ verpackt. Die Folgen laufen derzeit auf unterschiedlichen Onlineplattformen und brechen Zuschauerrekorde.
Kein Zugang mehr
Es sind Bilder von blutigen Schlägereien, von Überfällen, unbeugsamen Kämpfen, mit denen die Halbwüchsigen sich Gehör zu verschaffen versuchen, von den Erwachsenen aber für rein böse gehalten und aufgegeben werden. Die Väter und Mütter finden keinen Zugang mehr zu ihren Kindern. Mit Worten nicht, mit körperlicher Züchtigung noch weniger.
„In unserem Land herrscht Chaos, und in euren Köpfen auch“, schreit der Vater von Marat und Wowa. Sie lassen ihn stehen und ziehen zum nächsten Kampf mit einer verfeindeten Bande. Sie „teilen“ den „Asphalt“ in ihrer Stadt, kämpfen unerbittlich um „ihr“ Territorium. Sie tun das nach ihren eigenen Regeln, nach den Gesetzen der Stärke. Es gibt nur die Wahl zwischen „Tschuschpan“ oder „Pazan“, dazwischen gibt es nichts.
Die Serie greift das soziale Phänomen der Jugendbanden auf. Kryschownikow und sein Drehbuchautor Andrei Solotarjow fragen nach dem Warum. Sie wollen dem Verlust des Vertrauens nachgehen, den Mechanismen des Überlebens, wenn die Welt um einen herum zusammenbricht. Was macht das mit Menschen? Was mit Jugendlichen, die Halt suchen, von Eltern, Schule, dem Staat aber nicht gehört werden?
„Das Wort des Jungen“ ist ein brutales Drama des Erwachsenwerdens geworden, eine grausame Geschichte der Entfremdung von Generationen. „Verbrechen, die ungesühnt bleiben, kehren potenziert zurück“, sagte der Regisseur bei der Premiere vor über einer Woche.
Erstaunliche Parallelen
Mit dem Drehen hatte er noch vor Moskaus Einmarsch in der Ukraine begonnen, seine Serie aber weist erstaunliche Parallelen zu den Verheerungen im heutigen Russland auf. Kunstvoll wie erbarmungslos illustriert Kryschownikow eine Gesellschaft, die nach der Regel „Der Stärkere hat recht“ lebt. Er zeigt, wie alles in Gewalt, Lügen und Zynismus aufgeht.
Auch Russlands Präsident Wladimir Putin und seine Silowiki, die Sicherheitsorgane, sind sogenannte „Pazany“. Das sind Jungs, deren Weltbild sich aus dem Ehrbegriff des Gefangenenwesens speist: schlagen, unterdrücken, erniedrigen.
Wenn die Russ*innen „po-pazanski“ sagen, meinen sie damit die Sozialisierung im Hinterhof, wo geprügelt und unterworfen wird. So wird Gerechtigkeit verstanden. Putin erzählt immer mit Stolz über seine Jugend in den Hinterhöfen seines Leningrader Bezirks.
Nun hat sich auch der Staat der Serie angenommen – auf die gewohnte Art. „Das Wort des Jungen“ soll verboten werden. Die Serie fördere einen gefährlichen Lebensstil von Jugendlichen, behauptet die für den Schutz der Familie zuständige Duma-Abgeordnete Nina Ostanina.
Es geht einmal mehr ums Untersagen, nicht um die Auseinandersetzung mit kausalen Zusammenhängen. Währenddessen gibt sich der Präsident als der Ober-Pazan, der nach seinen eigenen Regeln lebt und den Rest um sich herum zu unterwerfen versucht, durch den Kult der Stärke.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch