Mediale Verarbeitung des Syrienkrieges: Wir Sesselfurzer
Alles scheint nur noch schrecklicher zu werden. Immer neue Bilder mit sterbenden Kindern prasseln auf uns ein. Wie sollen wir damit umgehen?
Es gibt Tage im Zeitungsmacherleben, da fühlen sich sogar Berichte über rechtsradikale Proteste gegen Flüchtlingsheime in Berlin wie leichte Kost an. Leicht im Sinne von: leicht verständlich und deshalb relativ leicht verdaulich.
Weil Gut und Böse scheinbar klar zu trennen sind. Hier die Nazis, dort die schutzbedürftigen Migranten. Völlig klar, auf welcher Seite wir da stehen, und einfach, richtig zu reagieren.
Aber Syrien?
Da ist nichts einfach. Da scheint alles nur noch schrecklicher zu werden. Gefährlich, tödlich für die Syrer. Und kompliziert für uns. Was aus Syrien gezeigt und berichtet wird, ist schwere Kost. Manchmal zu schwer, um rational zu bleiben. Da gibt es Tage, an denen man sich schlicht überfordert fühlt. An denen es kaum möglich ist, einen strikt journalistischen Blick zu behalten und die eigenen Gefühle hintanzustellen.
Immer neue Bilder und Filme mit sterbenden Kindern, vollen Leichenhallen, trauernden, verzweifelten Menschen – wer denkt da nicht: Da muss doch irgendjemand irgendetwas tun! Sonst sind wir auch mit schuld.
Wir Sesselfurzer.
Haben wir uns nicht vorgenommen, nie wieder bei Barbareien wegzuschauen, sondern einzugreifen? Zur Not auch militärisch. Wir, der Westen.
Aber wann ist rechtzeitig, und wo fangen Barbareien an? Wirklich bei Chemiewaffen, die US-Präsident Barack Obama im Fall Syrien zum entscheidenden Kriterium erklärt hat – genau vor einem Jahr, als er von der „roten Linie“ sprach, die Syriens Diktator Baschar al-Assad nicht überschreiten dürfe?
Doch alles nur ein Fake?
Theoretisch würde das bedeuten: Ein Toter durch Chemiewaffen reicht als Grund, um Assad militärisch anzugreifen. 100.000 Tote durch konventionelle Waffen nicht. Das klingt absurd. Aber das ist die offizielle rote Linie, immer noch.
Und beim Nachdenken darüber fangen die Zweifel an. Weil ja auch Assads Gegner von Obamas roter Linie wissen und womöglich alles tun, um einen Chemiewaffenangriff zu belegen. In das Entsetzen über die Bilder aus Syrien mischt sich deshalb immer wieder auch der Gedanke: Ist doch alles nur ein Fake oder wurden jedenfalls zum Teil auch Zusammenhänge konstruiert?
Und wovor haben wir eigentlich mehr Angst, wenn wir ehrlich sind: vor einem Nichtstun des Westens und weiteren Opfern? Oder vor einer Intervention mit unabsehbaren Folgen für Israel, den Nahen Osten und vielleicht für uns? Darf man das überhaupt denken? Ist das schon mangelndes Mitgefühl für die mutmaßlichen Assad-Opfer?
Recherchieren und prüfen
Kann man wegen der vielen offenen Fragen und fehlenden Beweise darauf verzichten, aktuelle Syrien-Bilder auf die Seite eins zu heben? Wäre das typisch deutsche, sesselfurzerische Unentschlossenheit oder gar unterlassene Hilfeleistung?
Nein, als Journalisten können wir nur recherchieren und versuchen, alle Berichte auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen – so schwer das ist in Syrien – und dann eine Einschätzung vorzunehmen. Die Meinungen zum Vorgehen des Westens werden dann immer wieder auseinandergehen. Darüber kann und muss gestritten werden. Nur eines sollten wir nicht tun: einem Kollegen mit anderer Meinung Bequemlichkeit vorzuwerfen.
Denn das geht in beide Richtungen: Es kann bequem sein, vom Schreibtisch aus nur Zurückhaltung zu fordern und die Syrer ihrem Schicksal zu überlassen. Es kann aber auch bequem sein, die USA zum Angriff aufzufordern, ohne die möglichen Folgen für die Zivilbevölkerung und die Nachbarländer auszusprechen. So einfach dürfen wir es uns nicht machen. Auch nicht an Tagen, an denen wir uns zwischendurch überfordert fühlen.
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