Maxi Obexers Roman „Unter Tieren“: Warum Nietzsche weinte
Maxi Obexers Roman „Unter Tieren“ ist schroff, lyrisch und illusionslos. Sie entzaubert die Südtiroler Bergwelt und den Menschen an sich.
„Überhaupt das im Singular gebrauchte Wort ‚das Tier‘, gemessen an der unendlichen Vielfalt aller Arten, überlegen Sie mal: eine Ameise, ein Affe, eine Schlange, alles dasselbe? Und der Mensch, der diesem einen Tier gegenübersteht. Schon kurios, finden Sie nicht?“ Diese Frage stellt der Dozent eines Philosophieseminars, das die Ich-Erzählerin von Maxi Obexers Roman „Unter Tieren“ besucht. Es ist ein kurzes, eingeschobenes Kapitel, in dem es unter anderem darum geht, dass ein Essay über die Frage geschrieben werden soll, warum Nietzsche auf einer Turiner Straße ein geprügeltes Pferd umarmte und weinte (daraufhin wurde er endgültig für verrückt erklärt).
Hier wird in einem akademischen Ambiente, das den sozial größtmöglichen Kontrast zu jenem Milieu darstellt, in dem der Rest des Romans spielt, die Metaebene dessen angerissen, wovon dieses Buch handelt: Eine namenlose Ich-Erzählerin hält Rückschau auf ihre Kindheit im ländlichen Südtirol. Auslöser ist der Zusammenbruch ihrer Tante Antonia, bei der sie aufgewachsen ist. Eines Tages verlässt Antonia ihren kleinen Hof in den Bergen, um sich von einer Autobahnbrücke zu stürzen – wird aber gerettet von einem streunenden Hund, der sich ihr angeschlossen hatte und nun bellt, bis Fremde aufmerksam werden und die Frau von der Brücke holen. Antonia waren von Amts wegen ihre Kühe weggenommen worden, irgend etwas mit Gesundheitsgefährdung, und nun vermag sie ihrem Leben keinen Sinn mehr abzugewinnen.
Die Ich-Erzählerin wird durch den Besuch bei Antonia im Pflegeheim gedanklich in ihr früheres Leben zurückgeworfen. Die familiären Beziehungen ihrer Kindheit sind dysfunktional. Die Mutter, selbst einer vermutlich traumatischen Kindheit entronnen, verlässt ihre Tochter früh, lässt sie zurück bei ihrer Schwester Antonia, die sich mit einer Milchwirtschaft durchs Leben schlägt. Andere Familienmitglieder scheint es nicht zu geben – außer einem Onkel, der ein schweigsamer Landmann und für die jugendliche Ich-Erzählerin keine Bezugsperson ist.
Beziehungen zwischen Menschen sind unzuverlässig
Maxi Obexer: „Unter Tieren“. Weissbooks, Berlin 2024, 240 Seiten, 24 Euro.
Die Kühe hingegen werden zu echten Gefährtinnen, als das Mädchen erstmals einen Sommer mit ihnen auf der Alm verbringen darf – nur um danach hilflos mitzuerleben, wie die Tiere nach dem Almabtrieb von ihren Besitzern grundlos gepeinigt werden: „Die Gewalt der Männer war mir nicht fremd, sie galt als natürlich und schien mit dem aufrechten Gang eingeübt worden zu sein.“ Weil dieses Recht auf Gewaltausübung so natürlich scheint, ist die Jugendliche noch nicht in der Lage, es grundsätzlich in Frage zu stellen. Erst die Begegnung mit einem jungen Hirten, der sich lesend auf ein Leben jenseits der Alm vorbereitet, gibt ihr ein Wort für das, was sie und die Tiere erlebt haben: Sadismus.
Beziehungen zwischen Menschen, das ist zwischen den Zeilen des Romans deutlich eingeschrieben, sind, auch wenn sie gelingen, flüchtig, im übrigen aber unzuverlässig oder Schlimmeres. Das Gefühl tiefer Liebe erlebt die Erzählerin erstmals mit ihrer Hündin Pirat. So wie der Hund seit Jahrtausenden den Menschen begleitet, durchstreifen Hunde diesen Roman. Sie suchen, obwohl ihr Vertrauen ständig missbraucht wird, die Nähe zum Menschen. Obexers Sprache ist zugleich rau und lyrisch, kurze Sätze von scheinbarer Einfachheit stehen ebenso für sich selbst, wie die Menschen es tun, von denen darin die Rede ist.
Diese Sätze vereinen sich zu einer Erzählung, in der von Gefühlen nie die Rede ist und Naturbilder innere Zustände verdeutlichen. Die Verwundungen, die Menschen sich und den Tieren zufügen, liegen irgendwo hinter den Worten. Als glücklich darf sich schätzen, wer während der Lektüre einen Hund zum Streicheln hat. Oder ein Pferd zum Umarmen.
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