Massentourismus statt Idyll: Das Ende der Pferdeinseln
Auf den Prinzeninseln vor Istanbul sollen die traditionellen Pferdekutschen verschwinden. Ein Sieg für den Tierschutz – aber auch ein großer Verlust.
Noch vor wenigen Wochen bot der Kutschplatz von Büyükada ein malerisches Bild. Rund um einen kleinen Holzturm, von dem aus die Kutschen per Megafon dirigiert wurden, drängten sich an die hundert Gespanne, oft bunt geschmückt, und warteten auf Kundschaft. Die Kutschen waren schon immer das Wahrzeichen der Prinzeninseln. Außer ein paar Polizei- und Feuerwehrfahrzeugen sind auf den Inseln keine Autos erlaubt. Stattdessen wurden alle Transporte traditionell mit den Pferdekutschen erledigt.
Viele Bewohner der Inseln können es nicht fassen. Ungläubig schaut Ahmet, der Besitzer einer Teestube, auf den sauber gewaschenen leeren Kutschenplatz. „Ich kann es noch gar nicht glauben“, sagt er leise, „Büyükada ohne Pferdekutschen, das ist doch undenkbar“.
Büyükada ist, wie schon ihr Name sagt (Große Insel), die größte der neun Prinzeninseln, die von Istanbul aus mit dem Schiff in einer guten Stunde zu erreichen sind. Die Prinzeninseln sind das beliebteste Naherholungsziel der Istanbuler. Eine langsam in der Sonne dahinrollende Kutsche auf einer schmalen, mit Platanen bestanden Gasse ist das Bild, dass jeder Istanbuler mit den Prinzeninseln verbindet. „Schon wenn man eines der Fährschiffe betritt“, schwärmte unsere Nachbarin immer, „beginnt der Kurzurlaub.“
Refugium der Minderheiten
Vieles auf den Inseln vermittelte bis vor wenigen Jahren noch die Atmosphäre des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es war eine ruhige heile Welt der Kutschen, der in einem verspielten Art-déco-Stil errichteten Holzvillen, der altmodischen Freibäder und des mondänen Ada-Clubs für die Reichen und Schönen, die von Pera, dem europäischen Viertel Istanbuls, mit der eigenen Jacht herüberkamen.
Besonders privilegierte Istanbuler Familien haben bis heute ein Ferienhaus auf den Inseln. Die alten Holzvillen werden über Generationen vererbt und gehören zu den Inseln wie der Wald und bislang die Pferde. Kamen die Familien zur Sommerfrische, ließen sie sich zu ihrem Haus kutschieren und später immer wieder ins Inseldorf bringen.
Viele Häuser gehörten Istanbuler Griechen, Armeniern und Juden. Die Prinzeninseln waren und sind ein Refugium der nichtmuslimischen Minderheiten. Alle Inseln haben griechische Namen. Büyükada ist Prinkipo, die zweitgrößte, Heybeliada, ist Chalki, auf der das wichtigste griechische Kloster Istanbuls steht.
Ihren europäischen Namen Prinzeninseln (im türkischen heißen sie einfach „Adalar“, die Inseln) hat die Inselgruppe aus der Zeit des Byzantinischen Reiches, als die Prinzen, die in der Thronfolge nicht zum Zuge kamen oder ausgeschaltet werden sollten, auf die Inseln in eines der vielen Klöster dort deportiert wurden. Es war ein feudaler Verbannungsort aus dem später, im Osmanischen Reich, ein Fluchtpunkt der christlichen Minderheiten wurde. Einer der prominentesten Flüchtlinge, der mehrere Jahre auf Büyükada im Exil verbrachte, war Leon Trotzki, der sich dort vor der Verfolgung durch Stalin vorläufig in Sicherheit gebracht hatte, bevor er später in Mexiko ermordet wurde.
Entdeckt von der Tourismusindustrie
Auch in den ersten Jahrzehnten der türkischen Republik blieben die Inseln ein verwunschener Ort. Viele Griechen und Armenier waren im oder nach dem Ersten Weltkrieg getötet oder vertrieben worden und die reichen Türken bevorzugten den Bosporus und ein Sommerhaus am Mittelmeer.
Erst als der Fährverkehr in den 1960er und 1970er Jahren regelmäßiger und häufiger wurde, mieteten sich auch mehr und mehr ordinäre Istanbuler für den Sommer auf den Inseln ein. Doch während Istanbul von den 1960er Jahren bis zur Jahrtausendwende von 1,5 Millionen auf 15 Millionen Einwohner ein geradezu explosionsartiges Bevölkerungswachstum erlebte, blieb es auf den Inseln ruhig. „Büyükada ist noch nicht wachgeküsst“, meinte ein Freund, „die Baulobby und die Tourismusindustrie haben die Inseln noch nicht richtig entdeckt.“
Das änderte sich vor gut zehn Jahren. Mit dem wachsenden Einkommen in Istanbul wuchsen die Begehrlichkeiten auf Häuser und Grundstücke auf den Inseln, und die wachsenden Touristenzahlen in der Stadt führten auch zu immer mehr Tagesbesuchern auf Büyükada und Heybeliada, den beiden größten Prinzeninseln.
Den Pferden wurde gerade der vermehrte Andrang zum Verhängnis. Die Anzahl der Kutschen verzehnfachte sich in wenigen Jahren, aus der geruhsamen romantischen Fahrt wurde ein Geschäft, bei dem möglichst viele Touristen in möglichst kurzer Zeit um die Insel gekarrt wurden. Für die Pferde wurde das zur Katastrophe. Gehetzt von ihren Kutschern, die längst nur mehr Saisonarbeiter für große Kutschunternehmen waren, starben in den letzten Jahren durchschnittlich 300 von 1.500 Pferden, die auf den Inseln im Einsatz waren, in jeder Saison. Aus reiner Profitgier wurden sie gehetzt, bis sie entkräftet zusammenbrachen oder in schwere Unfälle verwickelt wurden. Sie wurden schlecht ernährt und schlecht gepflegt.
Und die Tiere?
Völlig zu Recht schlugen immer mehr Tierschutzinitiativen Alarm. Als Ende letzten Jahres auch noch eine Pferdeseuche ausbrach und über 80 Pferde getötet werden mussten, zogen der neue Bezirksbürgermeister der Inseln, der frühere Cumhuriyet-Journalist Emre Gül, und der neue Istanbuler Oberbürgermeister, Ekrem İmamoğlu, die Notbremse und verhängten eine dreimonatige Zwangspause für alle Pferdekutschen.
Was zunächst von allen Inselbewohnern als sinnvolle Maßnahme akzeptiert wurde, verwandelte sich in Unverständnis, als im Januar plötzlich verkündet wurde, dass die Pferdekutschen komplett abgeschafft werden. Ab März sollen nun elektrisch betriebene Vehikel, die aussehen wie größere Golfcars, die Kutschen ersetzen. „Eine völlig intransparente und die Bewohner der Inseln ignorierende Entscheidung“, kritisieren einige Insulaner per Pressemitteilung diese Entwicklung. Für die Inseln geht damit eine Ära zu Ende.
Ahmet, der Teestubenbesitzer am ehemaligen Kutschenplatz, hält das für einen Pyrrhussieg der Tierschützer. „Wer weiß, was mit den arbeitslos gewordenen Pferden nun passiert? Vielleicht landen sie alle im Schlachthof“, meint er düster. Ohne die Pferde verlieren die Inseln endgültig ihren Charakter, befürchtet Ahmet. „Die elektrischen Kleinbusse werden den Massentourismus erst recht befeuern“, sagt er. „Sie können mehr Menschen transportieren und werden auch die letzten Ecken der Inseln noch für den Tourismus erschließen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung