Masse, Medium und Museum: Das Kino als Denkraum

Der Videokünstler Clemens von Wedemeyer fragt in einer Ausstellung in Leipzig nach dem Umgang mit historischen Erinnerungen.

Filmszene von Menschen, die sich voranschieben

Clemens von Wedemeyer, Faux Terrain, 2019 Foto: GfZK Leipzig

Wie schließen sich Menschen zusammen? Welche Dynamiken können innerhalb von Menschenmengen entstehen? Wie wird soziales Verhalten durch Simulation erprobt? Es sind große Fragen, die Clemens von Wedemeyer in seiner Ausstellung „Mehrheiten“ in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig stellt.

Die Wände des Neubaus, die sich je nach Ausstellungsthema anpassen lassen, sind zu einer eng nach hinten verlaufenden Raumflucht zusammengeschoben. Der Zutritt durch die schmale Öffnung hinein in den Ausstellungsparcour bedarf (non-)verbaler Kommunikation, will man seine persönliche Safety Zone nicht mit fremden Mitbesuchern teilen.

Acht Videos aus den vergangenen 20 Jahren zeigen die Kuratorinnen Anna Jehle und Franciska Zólyom. Sie haben Clemens von Wedemeyer eingeladen, der an der Leipziger Kunsthochschule seit sechs Jahren eine Professur für „Expanded Cinema“ innehat. Der erweiterte Kinobegriff wird in der Klasse als ein möglicher Weg für Künstler*innen gesehen, sich in die Diskurse in einer visuell und akustisch vernetzten Welt einzuschalten.

Eine Haltung, die sich auch an den ausgestellten Arbeiten des Professors nachvollziehen lässt: Im Studium fiel ihm Elias Canettis „Masse und Macht“ in die Hände und es entstand ein dreiminütiger Zusammenschnitt aus Archivaufnahmen von Massenaufläufen und politischen Demos aus den 20er Jahren. Zum Diplom 2002 drehte er nachts eine Szene mit einer Menge von Statisten. Doch das Filmteam ist uneins, die Masse wird unruhig, entwickelt eine eigene Dynamik.

Agenten regeln soziale Routinen

Im vergangenen Jahr nahm er diesen Themenfaden wieder auf und spann ihn weiter ins Digitale: „Transformation Scenario“ beschreibt eine Dystopie, die angesichts von Alexa und Tinder erschreckend unfiktional daherkommt: Eine Firma beobachtet Menschen, generiert Daten und bietet Agenten an, die das Leben stellvertretend für das Individuum gestalten.

„Mehrheiten“ von Clemens von Wedemeyer läuft bis 17. November in der Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig.

Soziale Routinen werden automatisiert. Tödliche Unfälle gibt es nicht mehr. Und bevor zwei Menschen aufeinandertreffen, lernen sich ihre Agenten kennen. Illustriert wird dieses Szenario durch Found Fottage – von Woodstock bis hin zur Wall of Death beim With Full Force Festival 2014 (zwei Menschenmengen rennen während eines Konzerts ineinander, verletzt wird meist niemand).

Das Dokumentarische auflösen, um der Komplexität der Welt gerecht zu werden. Diese Werkbeschreibung trifft vor allem auf die beiden Neuproduktionen zu, die für Leipzig und Luzern entstanden, wohin die Ausstellung weiterwandert. In die Leipziger Laufzeit fällt das 30. Jubiläum der Montagsdemonstrationen, die im September 1989 in der Messestadt begannen und bis heute in einer Erinnerungskonkurrenz zum Mauerfall stehen. 70.000 Menschen sollen am entscheidenden 9. Oktober 1989 auf der Straße gewesen sein.

Clemens von Wedemeyer transferiert dieses Ereignis für „70.001“ in den digitalen Raum: Junge Menschen laufen aus der Nikolaikirche durch ein vereinfacht dargestelltes Leipzig von heute, durchbrechen Polizeiketten. Das Gebäude der Stasi-Zentrale fällt in sich zusammen. Nach 17 Minuten ist die Stadt so voll, das die Menschenmenge sich selbst gegenübersteht.

Mehr als nur eine interessante Massenveranstaltung

Das Dokumentarische wird eindeutig aufgelöst, auch, weil die Tonspur von historischen Aufnahmen ins digitale Rauschen übergeht. Doch der Transfer in die schematische Computerspielästhetik bleibt blutleer. Denn die Montagsdemos waren mehr als eine interessante Massenveranstaltung. Sie waren geprägt von Angst. Von Gewalt. Von Verhaftungen. Von Familien, die vorab am Küchentisch darüber diskutieren, wer hingeht. Und wer sich im Fall der Fälle um die Kinder kümmert.

Es ist das Ausstellungsdisplay, das dieser Komplexität gerecht wird: Auf stilisierten Holzpodesten, die an ein Parlament oder eine Tribüne erinnern, nimmt man unterschiedliche Perspektiven auf das Video ein. Zum Teil ist der Winkel so steil, dass es kaum zu erkennen ist. Über Kopfhörer kann man den Gesprächen des Künstlers mit Zeitzeugen lauschen. Sie werden unabhängig von der Videospur im Loop abgespielt und unterstreichen, dass ein Bild nie die Erfahrung jedes Einzelnen transportieren kann.

Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns erzählt, wie sie sich Transparente um den Bauch schnürte, um sie ungesehen in die von der Stasi durchsetzte Nikolaikirche zu bringen. Spricht von Journalisten, die plötzlich da waren. Von engen Freunden, die im Gefängnis saßen. Vom Versuch zu dokumentieren, was da passierte, in diesen Wochen. Aram Radomski war einer der Fotografen, der am 9. Oktober heimlich von einem Kirchturm filmte, die Bilder dem Westfernsehen zuspielte und so entscheidend dazu beitrug, dass sie weite Teile der DDR-Bevölkerung erreichten.

Über Kopfhörer kann man den Gesprächen des Künstlers mit Zeitzeugen lauschen

Dieses Setting aus Sitzposition, Zeitzeugenerinnerungen und Bildtransfer stellt die wichtigen Fragen: Wer erinnert sich woran und wie? Und wer nutzt historische Ereignisse zu seinem Zweck? Das Format der Montagsdemos wurde schnell vereinnahmt, etwa von Hartz-IV-Gegnern. Und auch die Bilder erfahren eine Umdeutung: Die AfD hatte in diesem Frühjahr in Leipzig Plakate mit einer Aufnahme der Demo vom 16. Oktober 1989 aufgestellt. Der Enkel des Fotografen ist dagegen vorgegangen. Das Landgericht hat die Nutzung des Bildes inzwischen untersagt.

Kloster, Gefängnis, Konzentrationslager und Erziehungsheim

Bereits auf der documenta 13 war es die Verbindung von Filmen und deren Präsentation im Raum, mit der Clemens von Wedemeyer überzeugte: „Muster“ erzählte die wechselhafte Geschichte des ehemaligen Klosters Breitenau bei Kassel auf drei im Dreieck zueinander positionierten Projektionsflächen und ermöglichte die simultane Wahrnehmung der Nutzung als Gefängnis, Konzentrationslager und Erziehungsheim.

Das Kino ist für Clemens von Wedemeyer ein Denkraum, in den Zuschauer gleichzeitig eintreten. Im Austausch nach der Vorführung können Differenzen benannt und Individuelles in der Wahrnehmung kann damit sichtbar werden. Konsequent wird die Ausstellung im Herbst von einer Veranstaltungsreihe zu Phänomen der Mehrheit in Popkultur, Hirnforschung und Politik begleitet.

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