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Massaker vor dem Kasernentor

In einem algerischen Dorf werden bis zu 400 Menschen ermordet, und 800 Meter davon entfernt stationierte Soldaten greifen nicht ein. Die Regierung sieht keinen Erklärungsbedarf  ■ Von Reiner Wandler

Madrid (taz) – Wenige Tage nach dem folgenschwersten Überfall im fünf Jahre andauernden algerischen Bürgerkrieg wird in dem nordafrikanischen Land weiter massakriert. Nachdem in der Nacht zu Freitag bei einem Überfall auf das Dorf Rais 98 (Regierungsangaben), 256 (Meldungen aus Krankenhäusern) bzw. 400 (Augenzeugenberichte) Tote zu beklagen waren, riß die Gewalt auch am Wochenende nicht ab. Am Samstag wurde bekannt, daß bei einem Überfall auf die Ortschaft Maalba, 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier, 42 Personen getötet wurden. Im Viertel Frais Vallon nahe Algier überfiel eine Bande eine Familie und tötete fünf Personen. In Tiaret wurden sechs Schäfer, drei Frauen und ein Geistlicher ermordet. Die Täter köpften auch 100 Schafe. In Tlemen nahe der Grenze zu Marokko gingen in einem Restaurant Bomben hoch, drei Menschen starben.

Der Tathergang ist in allen Fällen unklar, auch, wer die Täter sind — ebenso wie im Fall des Massakers von Rais. Fest steht nur, daß dort 300 bis 400 Männer im „Afghanenlook“ – Bart, Turban, dunkles Gewand – gegen 22 Uhr auf Lkws in das Dorf zwischen Les Eukalyptus, einer völlig überbevölkerten Plattenbausiedlung in der Banlieu Algiers, und Sidi Mussa, einem Obstanbauort, 25 Kilometer außerhalb der Hauptstadt, einfielen. Mit Säbeln enthauptete die Meute die Dorfbewohner – auch Kleinkinder und Greise. Fliehende wurden niedergeschossen. Das Kommando verschleppte etwa 50 junge Frauen.

Keine Antwort gibt es bisher auf die Frage, wo die Soldaten einer nur 800 Meter entfernten Kaserne blieben. Haben sie von dem fünf Stunden dauernden Gemetzel, den Schreien, Gewehrsalven und Sprengungen von Häusern nichts mitbekommen? Die Regierung sieht sich nicht genötigt, Stellung zu nehmen. Eine knappe Erklärung macht „bewaffnete terroristischen Gruppe“ – die übliche Umschreibung für die radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) – für das Massaker verantwortlich. Hätte sich das Blutbad verschweigen lassen, hätte die staatliche Nachrichtenagentur APS sicherlich die übliche Informationssperre aufrechterhalten. Der „Krieg ohne Bilder“, wie der seit dem Militärputsch und dem Verbot der Islamischen Heilsfront (FIS) 1992 anhaltenden Konflikt immer wieder genannt wird, bekam dieses Mal dank eines Fotografen der US-amerikanischen Agentur AP ein Gesicht. Er war nach Rais gelangt, noch bevor das gesamte Gebiet durch Armee und Polizei hermetisch abgeriegelt wurde. Seine schrecklichen Zeugnisse füllten am Tag darauf überall die Titelblätter. Die algerische Agentur reagierte erst, als die Schreckensmeldung längst in aller Welt über Agenturen, Radio und Fernsehen lief.

„Die Nachrichtensperre führt dazu, daß keiner weiß, wer eigentlich hinter den Massakern steckt“, klagt der Vorsitzende der Algerischen Menschenrechtsliga (LADH), Abdenur Ali Jahia. „Jedesmal, wenn Präsident Zéroual den endgültigen Sieg über den Terrorismus verkündet, nimmt die Gewalt noch grausamere Formen an.“ Seit Zeŕouals letzter Fernsehansprache, vor zehn Tagen, sind weit über 500 Tote zu beklagen. Dabei verwundert die zeitliche Kordinierung der Attentate überall im Land, durch die laut Regierung „restlichen Gruppen“. „Entweder haben wir es mit einer regelrechten islamistischen Armee, mit zentralen Kommandostrukturen und guter interner Kommunikation zu tun oder mit einem Ableger der komplexen staatlichen Sicherheitskräfte“, gab vor wenigen Tagen ein europäischer Botschafter in Algier – ohne Nennung von Namen und Nationalität – gegenüber der spanischen Tageszeitung El Mundo seinen Zweifeln Ausdruck.

„Um die Urheber des Terrors benennen zu können, fordern wir eine unabhängige Untersuchungskommission, die vor Ort arbeitet“, erklärt der Menschenrechtler Jahia. „Die Regierung setzt auf eine rein militärische Logik und stürzt damit die Bevölkerung in immer weiteres Leid“, sagt Samir Buakuir, Sprecher der größten nichtreligiösen Oppositionspartei, Front der Sozialistischen Kräfte (FFS). Die internationale Gemeinschaft sei „für die starre Haltung Zérouals mit verantwortlich“.

Erst vor einer Woche orderte das algerische Militär sechs Kampfflugzeuge in den USA. Und die Wende in Frankreichs Nordafrikapolitik, auf die Algeriens Sozialisten nach dem Regierungswechsel in der ehemaligen Kolonialmacht sezten, blieb ebenfalls aus. „Frankreich kann sich nicht in die inneren Angelegenheiten Algeriens einmischen“, erklärte eine Sprecherin von Frankreichs Regierungschef Lionel Jospin nach dem Massaker in Rais.

Nach der Gewaltwelle gleicht Algier einer Geisterstadt. Auf die Straße geht nur, wer es gar nicht vermeiden kann. Das Abstellen von Fahrzeugen auf den großen Boulevards ist aus Angst vor Bomben untersagt. Bus- und Taxifahrer sowie Besitzer von Cafés und Geschäften sind per Regierungsdekret dazu angehalten, die Taschen ihrer Kunden zu durchsuchen.

Um die Totenstarre, in die das Land gefallen ist, ist zu durchbrechen, hat die FFS für den 11. September zu einem „Marsch auf Algier“ aufgerufen. Unter dem Motto „Gegen Terrorismus, Gewalt und Armut – Für Frieden, Demokratie und die soziale Gerechtigkeit“ sollen all diejenigen auf die Straße gehen, die am 20. August zu Hause blieben. Damals demonstrierten auf Einladung der ehemaligen Einheitsgewerkschaft UGTA Zehntausende anläßlich des Jahrestages des Beginns des antikolonialen Befreiungskrieges. Auch sie trugen Transparente gegen den Terror. Als „eine reine Unterstützungsveranstaltung für das Regime und die Militärs“ kritisierten alle Oppositionsparteien geschlossen die Veranstaltung. Ob der FFS-Marsch stattfindet, ist zweifelhaft. Bisher wurden alle Versuche einer solchen Demonstration verboten.

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