Mary Ochers neues Album: In einer anderen Welt wär sie ein Star
Brachial und erkenntnisreich: Die Berliner Popkünstlerin mit israelisch-russischen Wurzeln veröffentlicht ein neues Album.
Eine Vermutung nur, sicher. Doch sie liegt nahe: In einer besseren Welt wäre Mary Ocher längst ein Star. Schließlich hat die 30-Jährige alles, was Pop ausmacht. Einen Look, der Lady Gagas Exzentrik ins Berliner Kreativmilieu übersetzt. Einen brachialen Gesangsstil, der das Porzellan aus Joanna Newsoms Stimme schmelzt. Und nicht zuletzt eine Biografie wie ausgedacht, um die polyglotte Avantgarde von Brooklyn bis Neukölln zu repräsentieren: Geboren in Russland, aufgewachsen in einem Kibbuz und in Tel Aviv, wanderte Mary Ocher 2007 nach Berlin aus, um der israelischen Wehrpflicht zu entgehen. Seitdem ist sie als Musikerin, Regisseurin und Künstlerin eine Konstante im Underground der Hauptstadt. Was Mary Ocher noch ist: Anarchistin, Feministin, Zweiflerin. Eine, die sich die Welt kompliziert macht.
Auf ihrem neuen Album „The West Against The People“, vor kurzem erschienen auf dem Krautrock-Label Klangbad, geht es nun ums Ganze. Um die Herrschaft der wenigen, um Rechtspopulismus. Um die Frage, wie man mit der Angst umgeht, die Menschen so kalt und krank macht. Den Luxus, unpolitisch zu sein, könne sich heute niemand mehr leisten, sagt Ocher im Gespräch mit der taz. Trotzdem: Pillepalle, Larifari überall. Warum es noch immer so wenig politischen Pop gibt, kann sie nicht verstehen. „Sind die Leute einfach taub?“, fragt Ocher. „Zu beschäftigt mit sich selbst? Haben sie Angst, schlafende Hunde zu wecken?“
Ocher jedenfalls will Musik mit Agenda, doch sie fremdelt mit Parolen. „The West Against The People“ ist kein klassisches Protestalbum. Kein Sloganeering mit Zeigefinger – sondern ein Pop-Experiment, das den Widerstreit von Wut und Trauer über die Schlechtigkeit der Welt vertont. Da ist die Agonie, die das warme Ambient-Stück „The Endlessness (Song For Young Xenophobes)“ atmet. Die Angriffslust in Songs wie „My Executioner“: Getrieben von den schamanischen Percussions der beiden Drummer von Your Government – Ochers Backingband –, bäumt sich der Song zum Wutausbruch auf. Hebt Ocher anfangs noch zum Lamento an, spuckt sie die Worte zum Schluss mehr aus, als sie zu singen.
Ochers neues Album eint Spoken-Word-Stücke, rhythmusvernarrte Songs und anachronistisch anmutende Elektronikskizzen wie das karge, schöne „Arms“. So gespenstisch und dystopisch hallen die Songs, dass „The West Against The People“ eher einem Abgesang auf die Welt als einer Anklage gleicht. Aber: „Klingen nicht im Grunde alle meine Alben dystopisch?“, fragt Ocher. Ist sie also Pessimistin? „Wir alle sind so wahnsinnig privilegiert, dass wir eigentlich optimistischer sein sollten“, gesteht sie. „Denken wir daran: Wir leben in keinem Kriegsgebiet, haben ein Dach über dem Kopf und wahrscheinlich gerade köstliches Gebäck in der Hand.“
Antreibendes Elend
Wir, das ist dieser Westen, dessen Vorrecht in der Welt sie kritisiert. Auch sie, die Weitgereiste, sieht sich als Mitglied im Club der Profiteur*innen. Pessimismus und Unzufriedenheit, zu besänftigen nur durch Konsum, sei unserem System eigen. „Man kann es aber auch so sehen, dass unser Elend genau das ist, was uns antreibt, zu experimentieren und Fragen zu stellen“, sagt sie. Allein der Musik vertraut Ocher zur Klärung ihrer Fragen jedoch nicht.
Deshalb hat sie zusätzlich ein Essay veröffentlicht. Ein Manifest, drunter macht sie’s nicht. Denn Mary Ocher ist nicht das drollige Indiemädchen mit der großen Hornbrille. Jede Antwort, die sie gibt, läuft Gefahr, im nächsten Moment überdacht und verworfen zu werden. Sendungsbewusstsein kollidiert bei ihr mit dem Willen, eine radikale Idee nie dem Pop-Appeal zu opfern.
Mary Ocher: „The West Against The People“ (Klangbad/Broken Silence)
An einem Abend vor Kurzem steht sie auf der Bühne im „Ausland“, einer Off-Bühne in Berlin-Prenzlauer Berg. Ocher spielt Gitarre, Flügel, Flöte, alles im Alleingang. Schweigend schaut das Publikum zu und applaudiert erst, als Ocher einen Song mit einem Nicken und einem linkischen Knicks beendet. Aus einem alten Film scheint ihr Vibrato in die Gegenwart zu dringen. Zwischen zwei Liedern unterbricht sie plötzlich. Wie irre es sei, hier eine gute Zeit zu haben, während draußen so viel Schlimmes geschehe, sagt Ocher.
Ihr verhaltenes Lachen, als sie das Konzert fortsetzt, klingt seltsam schutzlos. Was bei anderen Künstlerinnen prätentiös anmuten würde, kauft man ihr als Bedürfnis ab. Wo gerade noch Show war, steht nun die Erkenntnis: Die Underdog-Rolle ist keine Pose, sondern Habitus. Ihre Strahlkraft dimmt sie selbst ins Dunkle – mit einer Aufrichtigkeit, die beinahe wehtut. Mary Ocher liebt die Ambivalenz und hasst Denkfaulheit. In einer anderen Welt wäre sie ein Star.
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