Markenexperte über Flüchtlingshilfe: „Aufsetzen auf den Zeitgeist“
Das Thema Nachhaltigkeit sei abgefrühstückt, meint Markensoziologe Errichiello. Jetzt setzten Unternehmen auf Mitmenschlichkeit und Toleranz.
taz: Herr Errichiello, Audi hat angekündigt, 1 Million Euro für Flüchtlingsprojekte zur Verfügung zu stellen. In den Zügen der Deutschen Bahn sollen Flüchtlinge und ihre Helfer kostenlos fahren dürfen. Viele Unternehmen machen sich derzeit für Flüchtlinge stark. Sind das humanitäre Gesten oder ist das reine PR?
Oliver Errichiello: Wie die Modewelt ist auch die Unternehmenswelt bestimmten Moden unterworfen. Nachdem man Ökologie und Nachhaltigkeit abgefrühstückt hat, sich das inzwischen jeder auf seine Fahnen schreibt und sich selbst Coca-Cola als „Green Product“ inszeniert, hat man jetzt das Thema Mitmenschlichkeit und Toleranz für sich entdeckt.
Das ist natürlich nichts anderes als ein Aufsetzen auf den Zeitgeist, damit man’s möglichst jedem recht macht. Das Problem ist nur, dass Marken oder Unternehmen nicht deshalb funktionieren, weil sie’s jedem recht machen, sondern weil sie für eine bestimmte Spezifik stehen.
In der Politik gilt das Thema Flüchtlinge nicht als eines, mit dem man Wahlen gewinnt. Kann man mit dem Thema denn den Verkauf ankurbeln?
Das hängt ganz von der Marke ab. Für Audi mag es vollkommen unpassend erscheinen, während es für eine Marke wie die Drogeriekette dm existenziell ist, dass sie immer wieder auf den Bereich Mitmenschlichkeit setzt. Diese One-size-fits-all-Denkweise, die wir in der Wirtschaft oft vorfinden, ist absoluter Mumpitz und bringt nichts.
Gab es ihrer Erfahrung nach in der Vergangenheit schon mal eine ähnlich hohe Bereitschaft, sich einer sozialen Frage zu widmen?
Der Markensoziologe gründete 2006 das Büro für Markenentwicklung in Hamburg, eine Strategieberatung, die Kunden wie Nivea und OTTO betreut. Errichiello ist Verfasser mehrerer Fachbücher zum Thema Marke und Dozent für Markenmanagement an der Hochschule Luzern.
Ja, im Falle der Nachhaltigkeit. Ich habe vor einigen Tagen einen neuen Begriff von einer Marketingleiterin eines sehr großen Unternehmens gelernt. Sie sagte, Nachhaltigkeit sei heutzutage ein Hygienefaktor. Den müsse man einfach haben und damit spielen.
Kein Unternehmen kann es sich heutzutage erlauben, nicht zu sagen, dass es etwas für Nachhaltigkeit macht. Selbst Kik wirbt auf der Website damit, sie würden Filialen mit Ökostrom betreiben. Dabei bestünde das eigentlich nachhaltige Handeln doch darin, ordentlich mit den Mitarbeitern, Lieferanten und Ressourcen umzugehen.
Inwieweit sind Flüchtlinge für die großen Unternehmen als Konsumentengruppe interessant?
Ich glaube, wenn ich gerade mein Leben gerettet habe, ist es mir relativ egal, ob ich gerade die Cola von Aldi oder Coca-Cola trinke. Von daher erübrigt sich diese Frage. Es gibt ja diese Bedürfnispyramide von Maslow. Markenpolitische Fragen stellen sich erst, wenn ich mich in Ruhe und Sicherheit befinde.
Es geht erst mal darum, dass die Menschen wieder ein halbwegs normales Leben führen können. Wenn ein Unternehmen also auf die Idee kommen sollte, unter Flüchtlingen Kunden zu suchen, wäre das für mich menschenunwürdig.
Wenn sich so viele Unternehmen für Flüchtlinge starkmachen – kann man dann den Rückschluss ziehen, dass ein Großteil der deutschen Gesellschaft Flüchtlingen wohlwollend gegenübersteht? Ist die Unternehmenskommunikation quasi ein Spiegel der Gesellschaft?
Nein, im Gegenteil! Man legt an Unternehmen heutzutage so hohe Standards an, dass diese immer schon von sich aus vorbauen, um keine Angriffsfläche zu bieten. Und man muss sich auch fragen: Wer macht denn die Kommunikation in den Unternehmen?
Das sind doch alles aufgeklärte Leute mit MBA und mindestens sechs Monaten Auslandsaufenthalt, die mit 19 Jahren mal eine Rucksacktour durch Thailand gemacht haben, weil sie auch einmal kurz wild sein wollten. Das ist aber nicht der gesellschaftspolitische Spiegel.
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