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Manfred Kanthers Überfall auf Kinder

■ Regierung will per Kindervisumpflicht Familienzusammenführung verhindern

Berlin (dpa) – Kinder aus der Türkei, Marokko, Tunesien und aus dem früheren Jugoslawien brauchen von morgen an für jeden Besuch in der Bundesrepublik Deutschland ein Visum. Mit dieser Maßnahme solle der sprunghaft gestiegene Mißbrauch der bislang visumsfreien Einreise aus den früheren Immigrantenanwerbestaaten gestoppt werden, erklärte Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) gestern in Bonn. Sein Entwurf einer im Eilverfahren umgesetzten Visumsverordnung wurde von den anderen Kabinettsressorts bereits schriftlich gebilligt. Die Maßnahme muß nun binnen drei Monaten vom Bundesrat bestätigt werden.

Während 1994 noch 198 alleinreisende Kinder unter 16 Jahren registriert worden seien, habe sich diese Zahl im vergangenen Jahr mit 2.068 mehr als verzehnfacht, teilte Kanther zur Begründung der Gesetzesänderung mit. Die Eltern bezahlten im Ausland viel Geld an Schlepperbanden in der Annahme, die Kinder dauerhaft nach Deutschland bringen zu können.

Der CDU-Hardliner betonte, die Verordnung sei auch mit Blick auf die gemeinsame Politik der Schengen-Staaten notwendig, weil Deutschland mit seiner Ausnahmeregelung in Westeuropa alleingestanden habe.

Die übrigen Staaten, zu denen keine Grenzkontrollen mehr stattfinden, könnten ein solches „Einfallstor“ nicht akzeptieren – es sei ohnedies in sozialpolitischer Hinsicht Ländern wie Frankreich nur schwer zu vermitteln.

Der Minister wies darauf hin, daß die Rechtsstellung von jungen Ausländern, die bereits in der Bundesrepublik leben, durch die Verordnung nicht berührt werde. Eine Übergangsregelung sehe vor, daß Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren bis Ende dieses Jahres eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen können. Voraussetzung sei, daß sie sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und mindestens ein Elternteil eine Aufenthaltsgenehmigung besitze.

Bei der Bonner Opposition stieß Kanthers Regelung auf vehemente Kritik: Die SPD-Innenpolitiikerin Cornelie Sonntag-Wolgast sprach von einer „überfallartigen Vorgehensweise“. Der einwanderungspolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Cem Özdemir, erklärte, Kanther wolle „quasi im Handstreich“ den Familiennachzug erschweren. Pro Asyl- Sprecher Heiko Kauffmann kritisierte, der staatliche Umgang mit Flüchtlings- und Migrantenkindern stelle alles auf den Kopf, was nach der UN-Kinerrechtskonvention unter dem Begriff „Wohl des Kindes“ als oberstes Prinzip formuliert sei. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP), erklärte, billigte letztlich in einer Stellungnahme für die Argumentation Kanthers, zeigte gar „Verständnis“ für dessen Vorgehen. Zugleich machte sie – so verlangt es das Image ihres Jobs – „aus integrationspolitischen Gründen“ mit Blick auf die hier geborenen Kinder Bedenken geltend:

„Die Notwendigkeit, sich den Aufenthalt in dem Land, in dem sie geboren und aufgewachsen sind, gestatten zu lassen, ist den Betroffenen nur schwer zu erklären.“

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