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Mahnmal für ermordete Sinti und RomaEine gesellschaftliche Baustelle

Mehr als 500 Menschen demonstrierten in Berlin gegen Baupläne der Bahn, die das Mahnmal für Sinti und Roma einschränken könnten.

Demonstration zum Erhalt des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma Foto: Doro Zinn

Berlin taz | Als sich der Demozug in Bewegung setzt, wird sichtbar, wer alles gekommen ist, um gemeinsam mit den Selbstorganisationen der Sinti*zze und Rom*nja zu demonstrieren. Ihr Protest richtet sich am Samstag gegen Baupläne von Bundesregierung und Bahn, die den Tunnel für eine neue S-Bahn-Trasse ausgerechnet unter dem Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Tiergarten entlang führen möchten. Die Initiativen befürchten daher, dass das Mahnmal im Zuge der Bauarbeiten gesperrt oder sogar teilweise abgebaut werden könnte.

Und sie sind mit dieser Sorge nicht allein: Während der Auftaktkundgebung hatten sich bereits laufend Demo-Teilnehmer*innen rechts und links vom Lautsprecherwagen dazugesellt. Und wie bei einem Fächer, der das ganze Bild erst im aufgespannten Zustand zeigt, reihen sich nun, als es losgeht, Einzelpersonen und als Gruppen erkennbare Teilnehmer*innen hinter dem Lautsprecherwagen ein, bald zieht sich der Zug vom Mahnmal bis zum Brandenburger Tor: Mehr als 500 Menschen sind gekommen – vor einer Woche, bei der ersten Kundgebung, die mehr Aufmerksamkeit auf die Baupläne und das Mahnmal lenken wollte, waren es rund 50 Menschen gewesen.

Auf Plakaten, T-Shirts und Mund-Nase-Masken ist zu erkennen, woher die Solidarität kommt: Aus migrantischen Gruppen, aus der Black-Lives-Matter-Bewegung, von der Seebrücke, von Jüdinnen und Juden. Das vielfältige Bild macht deutlich: Dies ist heute kein reiner Kampf der Rom*nja und Sinti*zze. Hier sind viele, die deren Kampf für mehr Sichtbarkeit und Anerkennung als einen gemeinsamen Kampf für eine offene, diskriminierungsärmere und gerechtere Gesellschaft verstehen.

Mitorganisator Gianni Jovanovic ist die Freude darüber anzuhören. „Es ist das erste Mal, dass sich so viele Menschen als Alliierte an die Seite der Rom*nja und Sinti*zze gestellt haben“, sagt er. „Das ist ein sehr gutes Zeichen – es ist wichtig, auf die Situation der Sinti*zze und Rom*nja aufmerksam zu machen, denn das Bauvorhaben negiert die Gegenwart der Menschen in der deutschen Gesellschaft und wie stark sie von Rassismus betroffen sind.“ Jovanovic fordert nun andere Ansätze in der Bildung der Dominanzgesellschaft: „Die Menschen müssen das, was sie gelernt haben, hinterfragen und sich ihre Vorurteile bewusst machen.“

Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma

Erst nach langem Kampf der Minderheit und 20 Jahren Planung wurde das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma 2012 eröffnet: ein kreisrundes Wasserbecken mit einem dreieckigen Stein in der Mitte, auf dem stets eine frische Blume liegt. Steine rund ums Becken erinnern an Orte des Nazi-Terrors; auf Glastafeln wird über Ausgrenzung und Massenmord an der Minderheit informiert. Das Mahnmal befindet sich im Tiergarten zwischen Reichstagsgebäude und Brandenburger Tor.

Gefährdet ist das Mahnmal, weil die Trasse für die neue S21 in einem Tunnel unter dem Mahnmal verlaufen soll. Die Trassenführung gab die Bahn im Januar bekannt; vom Mahnmal war keine Rede. Doch lobten sich die Beteiligten dafür, eine Lösung fürs Besuchszentrum des Bundestags gefunden zu haben. Ende Mai hieß es: Das Mahnmal werde während der Bauarbeiten nicht angetastet, immer sei ein Zugang möglich; Planungen befänden sich im frühen Stadium, man hoffe auf eine gute Lösung. (usch)

Mahnmal unberührt lassen

Denn den Selbstorganisationen geht es bei ihrem Protest gegen die Baupläne nicht nur um das Mahnmal, sondern auch darum, wie sie in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Schon im Vorfeld hatten sie dazu aufgerufen, ihr Anliegen zu unterstützen. Sie wünschen sich eine Lösung, die das Mahnmal unberührt lässt, und wollen erreichen, dass das Land Berlin als Bauherrin die Vorhaben stoppt.

„Es ist nicht unser Mahnmal, wir haben die Toten und den Holocaust nicht vergessen. Die Mehrheitsgesellschaft muss mit diesem Ort an die Verbrechen der Geschichte erinnert werden“, sagt Aktivist Kenan Emini. „Ich habe noch Angela Merkels Worte von der Eröffnung im Ohr, als sie sagte: wie können Geschichte nicht ungeschehen machen, aber wir können sie mit dem Mahnmal hier im Zentrum Berlins in unsere Mitte holen.“ Heute sei diese Aussage anscheinend nichts mehr wert.

„Die Zerstörung unseres Gedenkorts ist nicht mehr als eine Randnotiz auf Hunderten von Seiten im Antrag“, sagt zum Beispiel Mitorganisatorin Roxanna-Lorainne Witt. Sie fordert verpflichtende antirassistische Bildung in Schulen und Universitäten und einen Ausbau der Gedenkstätte zu einem Lernort. „Vor allem fordern wir einen Platz in eurer Mitte, nicht mehr am Rande der Gesellschaft“, sagt Witt.

Politische Forderung im Demonstrationszug für den Erhalt des Mahnmals Foto: Doro Zinn

Denn dass der Porajmos, der Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus, im gesellschaftlichen Bewusstsein keinen Platz einnehme, habe Auswirkungen bis heute. So seien drei der bei dem rassistischen Terroranschlag von Hanau ermordeten Menschen Rom*nja gewesen. Die Medien hätten allerdings den sogenannten Migrationshintergrund der Opfer betont. „Mehr als 700 Jahre leben wir hier als Minderheit und haben die Gesellschaft mitgestaltet, und immer noch gehören wir nicht dazu?“, fragt Witt.

Strukturelle rassistische Gewalt

Die Redner*innen prangern bei Zwischenkundgebungen die anhaltende Gewalt gegen Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland, Europa und weltweit an. Minutenlang zählt Kenan Emini Fälle auf, in denen Angehörige der Minderheit innerhalb der vergangenen Monate beschimpft, verleumdet, mit Hunden oder Waffen angegriffen, vergewaltigt und ermordet worden sind – eben keine Einzelfälle, sondern Belege für strukturelle rassistische Gewalt, der sie täglich ausgesetzt sind.

Zielscheibe des Protests ist außerdem die Bahn, die im Nationalsozialismus daran verdiente, dass sie die Menschen in die Lager transportierte und nun aus Sicht vieler Demo-Teilnehmer*innen Sensibilität gegenüber Opfern und Hinterbliebenen bei den S-Bahn-Bauvorhaben vermissen lässt. „Erst Deportationen koordinieren, dann Gedenken blockieren“ heißt es auf einem Plakat.

Vor der Konzernzentrale der Deutschen Bahn am Potsdamer Platz endet später auch die Demo – Moderatorin Tayo Awosusi-Onutor prangert an, dass sich die Bahn „komplett verblüfft“ zeigte, dass eine Sperrung oder Schließung des Denkmals problematisch sein könnte. „Diese Verblüffung kenne ich aus meinen Workshops, wenn ich frage, wer in der Schule etwas über den Porajmos gelernt hat“, sagt sie. Ähnlich wie die Geschichte Schwarzer Deutscher sei die Geschichte der Sinti und Roma weitgehend unsichtbar.

Auch darauf zielen viele Plakate ab. „Deutschland: Weltmeister selektiver Erinnerungskultur“ trägt eine Gruppe vor sich her, die sich als „Jüd*innen in Solidarität mit Romn*ja und Sinti*zze“ zu erkennen gibt. Sie finden den Umgang mit dem Mahnmal unverschämt und skandalös. „Mit dem Holocaust-Mahnmal wäre solch eine Diskussion gar nicht denkbar“, sagt Inna Michaeli aus der Gruppe.

Momentaufnahme auf der für den Erhalt des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma Foto: Doro Zinn

„Diskriminierende Erinnerungspolitik“

„Wir kritisieren die Hierarchie von Opfern und die diskriminierende Erinnerungspolitik in Deutschland. Als Jüd*innen wollen wir keine besondere Aufmerksamkeit, vor allem nicht auf Kosten von anderen Gruppen“, sagt Michaeli. „Wir fordern antirassistische Politik mit gleichem Respekt und insbesondere auch gleichen Ressourcen.“ Wo es einen Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung gibt, sollte es daher auch Beauftragte gegen Rassismus und gegen den spezifischen Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze geben, fordern sie.

Unterstützung kam auch von der Migrantifa, die von ihrer eigenen Kundgebung am Samstagmittag am Hermannplatz zur Demo am Mahnmal mobilisiert hatte und sich auch mit Plakaten solidarisch zeigte. „Das geht gar nicht, dass sie für eine S-Bahn das Mahnmal einschränken“, heißt es aus der Gruppe. „Romn*ja-Perspektiven gehen oft komplett unter im öffentlichen Diskurs, diesen Stimmen müssen wir mehr Reichweite geben. Und es sollte auch nicht die Aufgabe der direkt Betroffenen sein, auf diskriminierende Politik aufmerksam zu machen, sondern unsere gemeinsame Aufgabe, zu verhindern, dass Diskriminierung immer und immer wieder passiert.“

„Diese Demo heute hat mir Hoffnung gemacht“, sagt der in Berlin lebende Roma-Künstler-Aktivist Barica Emanuel. „Ich wünsche mir, dass diejenigen, die heute hier waren und etwas über die Minderheit gelernt haben das weiterverbreiten und sich auch weiter für uns interessieren. Denn nur durch gegenseitiges Interesse werden wir Teil einer gemeinsamen Gesellschaft.“

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1 Kommentar

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  • Oh, ich wäre gern dagewesen.



    In diesem Vorgang zeigt sich in bemerkenswerter Klarheit "unsere" Variante von Rassismus: Es gibt m.E. in Deutschland eine große Gruppe oder auch mehrere Gruppen von Leuten, die fast jede(r) ausblendet, wenn es um Fragen der Menschenwürde und gleichen Rechte geht: da sind ganz vorn dabei Sinti und Roma und Menschen, die womöglich "so aussehen". Dass die Schlachthofarbeiter und Erntehelfer, die zweitens ausgenommen sind von diesen unteilbaren Rechten, überwiegend "aus Rumänien eingeflogen werden", hilft ihnen wohl auch nicht - denn da sind sie ja schonmal ganz nah an Sinti und Roma dran, jedenfalls äußerlich, nicht wahr? So lernt man es doch?



    Und zum dritten sind es Obdachlose, egal mit welchen äußeren Merkmalen.

    Wir können uns nicht überwinden, ihnen einen Blick zu schenken, der dieselbe grundlegende Achtung von ihrem Menschsein ausdrückt wie bei Menschen, deren Kleidung aus den gleichen Läden stammt wie unsere, die eine Wohnung bewohnen, die wir uns in etwa vorstellen können und deren Tagesablauf auch nur entfernt mit unserem verglichen werden könnte. Oder anders: wir gehen davon aus, dass es da keine Überschneidungen gibt. Wissen tun wir es nicht. Vielleicht hoffen wir auch, dass es solche Überschneidungen nie gab und nicht geben wird, denn was würde das über die Stabilität unserer Existenz aussagen und darüber, wie sehr oder wie wenig wir diese "verdient" haben?



    Wir tun uns schwer, gleichermaßen für die Rechte all dieser Menschen einzustehen und legen unbewusst ein Maß an, nach dem es nicht sein kann, dass für die Gewährleistung ihrer Rechte tatsächlich genauso viel Aufwand, Raum und Geld angemessen sein sollte wie für unsere.

    Solange das so ist, brauchen wir uns nicht über weiße privilegierte Amerikaner zu erheben.