Magdeburger Schauspieldirektorin: Schwein in Sonderrolle
Roboter, Molche und Schweine: In den Inszenierungen von Clara Weyde wandeln fantastische Figuren mitten unter Menschen. Ein Porträt.
Ein Automat auf dem Thron? Der Hofstaat ist entsetzt. Wenn schon ein Automat, könnte der dann nicht besser „Wischen Waschen Wäschemachen“? Aber der alte König Basilio hat es so verfügt, dass anstatt des Sohnes, den er nicht hat, ein im Geheimen mit dem ganzen Wissen der Welt gefütterter Automat seine Nachfolge antritt.
Zumindest geschieht das so in der Bearbeitung des barocken Dramas „Das Leben ein Traum“ nach Pedro Calderón de la Barca, die das Theater Magdeburg zeigt. König Sigismund ist in dieser Fassung der Regisseurin Clara Weyde und des Dramaturgen Bastian Lomsché eine künstliche Intelligenz. Er trifft seine Entscheidungen nach dem Sachstand berechnet, doch ohne Emotionen oder Empathie. Das geht in der Inszenierung schnell wie ein Fingerschnippen.
„Unmut macht sich weiter breit, wegen knapper Nahrungsmittel“, trägt seine rechte Hand ein Problem vor, und mit Bewegungen, die schnelles Rechnen imaginieren, antwortet der König: „Nahrungsmittelknappheitsunmut – Mischkulturbepflanzungsplan, Weizeneinkaufspflichtverordnung.“ Wenig später folgt: „Volksvergreisungsprävention. Fortpflanzungsverpflichtungsklausel. Greise sind ins Meer zu werfen.“
So verhandelt die Inszenierung die Sorgen, Ängste und die Hoffnungen, die sich an die Entwicklung von künstlicher Intelligenz knüpfen. Die steht dabei nicht nur für eine gegenwärtige Entwicklung, sondern beispielhaft für die Diskussion über das, was an Veränderung möglich ist. Aber diese Metaebene ist nur ein Teil des Theater-Spiels, das zugleich witzig und formal sehr stilisiert ist.
Der Hofstaat und seine Rituale
Der Hofstaat hat seine Rituale, aufgeführt in steifen Kostümen und mit hüpfenden und raffiniert gestolperten Schritten. Der Nutzen der Regeln und Rituale am Hof ist übrigens das Erste, was Sigismund nicht einleuchtet. Für ästhetischen Überschuss hat er keine Deutung.
Nächste Termine im Theater Magdeburg: „Tod eines talentierten Schweins“, 19. 12., 22. 12, 28. 12.; „Das Leben ein Traum“, 25. 12., „Wolf“, 27., 28. 12. 2023
Der Blick auf Systeme, die Frage nach Zukunft und den Möglichkeiten der Erneuerung: Das ist etwas, was die Regisseurin Clara Weyde umtreibt. Dabei tauchen in ihren Inszenierungen nicht selten Figuren auf, die den Menschen nachahmen und spiegeln und damit einen distanzierten Blick auf seine Fehler ermöglichen.
In Berlin inszenierte sie im Sommer 2022 an der Schaubühne „Der Krieg mit den Molchen“ nach einem Roman aus den 1930er Jahren von Karel Čapek: In dieser futuristischen Satire machen sich die Menschen die Molche zunächst zu Sklaven. Doch dann lernen die Molche schnell von den Menschen, wie Ausbeutung geht, und kehren die Verhältnisse um. Auch diese Inszenierung war so witzig wie unheimlich. Die Molche, zur Landgewinnung angestellt, lernen, wie Überschwemmungen gehen. Dass die Menschheit am Ende in den Fluten untergeht, ist aus ihrer Perspektive nicht schade.
Umzug von der Elbe an die Elbe
Die Frage nach der Zukunft begleite sie jeden Tag, sagt Clara Weyde, 1984 geboren, im Gespräch. Sie hat eine Tochter von dreieinhalb Jahren, die in Magdeburg in die Kita geht. Seit der Spielzeit, die im September 2022 begann, gehört Clara Weyde mit dem Dramaturgen Bastian Lomsché und dem Kostümbildner Clemens Leander zu einem Dreierteam, das die Schauspieldirektion in Magdeburg bildet.
Dafür zog sie von Hamburg in die viel kleinere Stadt an der Elbe. Das war eine große „Lebensentscheidung“ sagt sie, denn diese Position nimmt sie voll in Anspruch, mehr als die Regiearbeit allein.
Ihre Inszenierungen enden meistens pessimistisch. Das, überlegt sie, liege auch daran, dass ihr als privater Person eine bessere Zukunftsperspektive fehle – aber genau deshalb beschäftigt sie sich sicher in ihrer Arbeit mit der Suche danach. Dabei ist sie in erster Linie nicht am Einzelschicksal interessiert, sondern vielmehr an der „Untersuchung struktureller Systematiken“.
Ungewohnter Blickwinkel durchs Stolpern
Der Humor, der oft schon in den Texten angelegt ist und den sie mit einer Komik der Körper verstärkt, ist nicht nur notwendig, um zu unterhalten – durchaus ein Anliegen ihres Theaters –, sondern auch, um zum Mitdenken zu verführen. Und weil sich im Moment des Stolperns, wo die Bewegungen nicht glatt laufen, manchmal auch etwas öffnet, ein ungewohnter Blick auf die Dinge.
Wenn man in Magdeburg am Bahnhof ankommt, ist es doch etwas überraschend, dass die Hinweisschilder zu den drei Ausgängen zum „Kölner Platz“, zum „Konrad-Adenauer-Platz“ und zum „Willy-Brandt-Platz“ weisen. So viel West im Zentrum Ost, das auf den nächsten Schritten mit gesichtslosen riesigen Shoppingmalls abschreckt. Bis man dahinter die vielen Kirchen und das schöne Elbufer entdeckt.
Identität Ost, Identität West: Das ist noch immer ein konfliktreicher Boden. Clara Weyde denkt, auch als Teil der Schauspieldirektion, dass das Theater Stoffe bieten soll, die etwas mit dem Leben des Publikums und der Gesellschaft in der Stadt zu tun haben, aber weder belehrend sein sollen, noch und schon gar nicht darauf eingeengt, sie als ostdeutsche Stadt zu spiegeln.
Lückenhafte Zukunftskonzepte
Wenn sie in ihrer Arbeit mit dem Mangel daran umgeht, was fehlt in den Konzepten von Zukunft, was blockiert Veränderung, dann geht das die Leute hier so gut wie anderswo an.
In dieser Spielzeit hatten zwei Stücke von ihr Premiere in Magdeburg. „Wolf“ nach einem Roman von Saša Stanišić spielt unter Jugendlichen in einem Ferienlager. Ein Junge wird gemobbt. Die Hauptfigur und Erzähler der Geschichte aber ist Kemi, unfreiwillig dort, ohne Lust auf die gespielte Begeisterung seiner Kumpels. Er ist zunächst nur Beobachter der Geschichte, wie Marko Jörg quält.
Dann aber merkt er immer mehr, wie gerade die Zuschauenden Markos Macht stärken. Zu diesem poetisch und leise inszenierten, aber auch in seinen pädagogischen Botschaften deutlichen Stück kommen auch viele Schulklassen.
Herausfordernder und weniger leicht einzuordnen ist dagegen der „Tod eines talentierten Schweins“, ein Monolog nach einem Roman des tschechischen Autors Roman Sikora, surreal und fantastisch, vor allem aber verstörend mit seiner ungewöhnlichen Geschichte. Marie-Joelle Blazejewski spielt und singt das stimmlich sehr begabte Schwein; der Musiker Thomas Leboeg begleitet sie am Klavier und markiert am Ende den Schlachter. Ein paar gestapelte Stühle und ein Vorhang aus Plastikstreifen reichen als Bühnenbild.
Das gesangsbegabte Schwein
Es ist das Schwein selbst, das seine Biografie erzählt: wie es mit seinem Sangestalent auffällt, eine Sonderrolle im Schlachthof erhält, vom Chef begnadigt wird, das Sterben der Artgenossen ab diesem Moment mit gefühlvollen und trostreichen Liedern begleitet. Aber nicht nur das: Auch die Arbeit der Schlachter macht es mit seiner Musikbegleitung leichter.
Marie-Joelle Blazejewski singt sehr schön schmachtvolle Popklassiker. Man fühlt den Stolz des Schweins auf seine Sonderrolle, sein Bemühen um Anerkennung, sein überspieltes Leiden an mangelnder Zugehörigkeit, seine Anpassungsleistung an das, was den Menschen gefällt, um zu überleben.
Langsam stellt sich beim Zuschauen die Beklemmung ein und wächst stetig. Um Massentierhaltung geht es nur vordergründig. Die Geschichte ist eine Parabel, eine große Arie auf die Leistung der Verdrängung, eine Erzählung von einer Selbsttäuschung, die dem Überleben dient. Des Schweins Simulation des Menschlichen ermöglicht dem Menschen, dieses Schwein noch viel perfider auszunutzen, wenn auch anders, als die anderen Tiere.
Durch unser Vorwissen stellen sich verschiedene Assoziationen ein, auch historische, auch zum Leben in Konzentrationslagern. Die Inszenierung fällt dabei kein Urteil über die Figur des Schweins, das versucht, so nahe dem Tod etwas Glück zu suchen, einen Traum zu leben, mit der Poesie, der Musik. Und doch damit dazu beiträgt, den Schlachthof am Laufen zu halten.
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