Machtwechsel in Argentinien: Was bleibt, ist die Armut
Die argentinische Regierung feiert die Amtszeiten der Präsidenten Kirchner als „gewonnenes Jahrzehnt“. Ein geschönter Blick.
Rückblende: Auf dem Höhepunkt der schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes gingen im Dezember 2001 Tausende auf die Straße. Sie trommelten gegen die verrammelten Fassaden der Banken und jagten den damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa aus dem Amt.
Im Januar 2002 erklärte der neu eingesetzte Präsident Eduardo Duhalde das Land für zahlungsunfähig. Die Wirtschaft schrumpfte um dramatische 11 Prozent. Rund die Hälfte der 40 Millionen zählenden Bevölkerung rutschte unter die Armutsgrenze, jeder Fünfte war arbeitslos. Heerscharen von Cartoneros, Papiersammlern, zogen nachts durch die großen Städte und durchsuchten den Müll nach Verwertbarem. In zahllosen Volksküchen bekamen viele ihre einzige warme Mahlzeit und Kinder ihren einzigen Becher Milch am Tag.
Die Subventionen für Energie und Wasser wurden von der Regierung Kirchner eingeführt. „Damit wir nicht noch tiefer abrutschen“, erinnert sich Manuel Gonzales. Damals war er zwölf Jahre alt. „Heute glaubt eine ganze Generation, Strom und Wasser gebe es fast umsonst.“
Seit 2003 trägt das Staatsoberhaupt den Nachnamen Kirchner. Von 2003 bis 2007 war es Néstor, danach seine Frau Cristina. Sie übernahm das Amt nach seinem überraschenden Tod im Dezember 2010. Cristina Kirchners zweite Amtszeit endet am 10. Dezember. Die Verfassung verbietet eine dritte in Folge. Am Sonntag wird ihr Nachfolger gewählt. „Für viele Argentinier haben die Kirchners das Land aus der Krise geführt, da kann die Opposition meckern wie sie will“, sagt Manuel Gonzales, der an der Universität von Buenos Aires Politik studiert.
Die Regierung hat die Parole von der „Década ganada“, dem gewonnenen Jahrzehnt, ausgegeben. Von 2002 bis 2007 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um jährlich knapp 9 Prozent, aber dann sank es erst auf fünf und schließlich auf zwei Prozent. Die Inflationsrate hielt sich ab 2002 mit jährlich unter 10 Prozent in Grenzen, doch im Laufe der Jahre stieg sie auf mehr als 25 Prozent. Die Regierung begann die Statistik zu schönen, nach ihrer Auffassung liegt sie um die 11 Prozent.
Zwar wird vielen die zwölf Jahre währende Kirchner-Ära in guter Erinnerung bleiben. Aber noch immer lebt ein großer Teil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die bemisst sich nach dem Wert eines Warenkorbs mit dem Notwendigsten. Nach Berechnungen der katholischen Universität in Buenos Aires muss eine vierköpfige Familie über ein Einkommen von umgerechnet rund 650 Dollar pro Monat verfügen, um nicht als arm zu gelten. Familien mit weniger als 330 Dollar im Monat gelten als extrem arm.
Doch es gibt Streit über die Armutsstatistik. Nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde Indec lebten im Jahr 2013 4,7 Prozent der rund 41 Millionen Argentinier in Armut, das sind etwas mehr als 2 Millionen. Dagegen errechneten Sozialforscher der katholischen Universität, dass rund 27,5 Prozent der Argentinier, also 11 Millionen, unter Armut leiden. Zwei Millionen davon werden als extrem arm eingestuft.
Gute Stimmung trotz Armut
Ursache der unterschiedlichen Zahlen ist die Inflationsrate, mit der die Kaufkraft der Bevölkerung gemessen wird. Die staatliche Behörde geht von einer jährlichen Inflationsrate von rund 11 Prozent aus. Die Sozialforscher der katholischen Universität legen eine Inflationsrate von mehr als 25 Prozent zugrunde. Daraus ergeben sich unterschiedliche Werte für das notwendige Grundeinkommen, das ein Rutschen unter die Armutsgrenze verhindert.
Trotz der Armut ist die Stimmung im Land gut. „Der Durchschnittswähler meint, die Lage des Landes und die Aussichten haben sich verbessert“, sagt Pablo Knopoff, Direktor des Wahlforschungsinstituts Isonomía. Aus den Vorwahlen im August seien die beiden aussichtsreichen Kandidaten, der Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires und Kirchner-Favorit Daniel Scioli, und der Bürgermeister der Hauptstadt Mauricio Macri gestärkt hervorgegangen.
Student Manuel Gonzales steht mittlerweile am Schalter und bezahlt seine bezuschussten Rechnungen. „Der nächste Präsident muss an die Subventionen ran“, sagt er. Die würden ein Loch in den Staatshaushalt reißen, das nicht mehr zu finanzieren sei. Wer die Wahl gewinnt, traut er sich nicht vorherzusagen. Wem er seine Stimme gibt, weiß er noch nicht. Nur eines hält er für gewiss: Gewinnt Scioli, werden die Zuschüsse langsamer abgebaut, gewinnt Macri, geht es schneller.
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