Progressive Politik in Lateinamerika: Das linke Projekt in Endzeitstimmung

Der Wahlsieg der Konservativen in Argentinien ist ein Umbruchsignal für den ganzen Kontinent. Viele linke Regierungen sind am Ende.

2012, auf dem Höhepunkt linker Hegemonie: (v. l. n. r.) Boliviens Präsident Evo Morales, Uruguays damaliger Präsident Jose Mujica, Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, Argentiniens Noch-Präsidentin Cristina Kirchner und Ecuadors Präsident Rafael Correa. Foto: reuters

BUENOS AIRES taz | Macris Wahlsieg ist eine politische Zäsur für den ganzen Kontinent, die den Niedergang „linker“ Regierungen in der Region exemplarisch zeigt. Nach zwölf Jahren Kirchnerismus hat sich ein Sozial- und Wirtschaftsmodell erschöpft, das – bei allen länderspezifischen Unterschieden – so oder so ähnlich in der ganzen Region angestrebt wurde: der Versuch, die soziale Ungleichheit zugunsten der Armen auszugleichen, die Abhängigkeit der Wirtschaft von Exporten zu mindern und – mehr rhetorisch als faktisch – die Fremdbestimmung ausländischer Interessen (vor allem der USA) in der Region einzudämmen.

Ein hemisphärisches Projekt, an dem neben Néstor und Cristina Kirchner in Argentinien auch die Staatschefs von Kuba, Venezuela, Bolivien, Nicaragua, Ecuador, Chile, Brasilien und zwischenzeitlich auch von Uruguay und Paraguay bauten. Die antiamerikanische Rhetorik, die vor allem Venezuelas Hugo Chávez bis zu seinem Tod 2013 perfekt beherrschte (man denke an Chávez’ berühmten Wutausbruch über George Bushs Irakfeldzug 2003: “You are Mister Danger“), war dabei ein ebenso wiederkehrendes Werkzeug wie Sozialprogramme und eine klientelistische Reichtumsumverteilung (Argentinien, Brasilien, Bolivien, Ecuador), die Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasressourcen (Argentinien, Venezuela, Bolivien, Ecuador) und der Rauswurf US-amerikanischer Militärs (Ecuador) und Diplomaten (Venezuela, Bolivien).

Worte und Taten, die auch bei europäischen Linken gut ankamen. Vor allem Chávez, Fidel Castro aus Kuba und Evo Morales aus Bolivien trieben eine „Bolivarianische Allianz für Amerika“ (ALBA) voran, die auch eine wirtschaftliche Alternative zu den Freihandelsabkommen mit den USA bieten sollten. Alba (spanisch: Morgendämmerung) sollte den Aufbruch schaffen zu einem sozialen, souveränen, geeinten Lateinamerika.

Doch 2015 muss man feststellen: Von den Regierungen, die im Superwahljahr 2006 zum „Linksruck“ in der Region beitrugen, haben sich viele aufgerieben durch ihren autoritären Regierungsstil, wirtschaftliche Ideenlosigkeit und – wie in Brasilien – durch Korruptionsskandale.

Ein gutes Jahrzehnt hat sie gehalten, die Faszination für die regierenden Revolutionäre in Lateinamerika. Heute sind zwei Ikonen der Bewegung – Chávez und Néstor Kirchner – tot. Die Umfragewerte der brasilianischen Staatschefin Dilma Rousseff liegen unter 10 Prozent. Evo Morales will die Verfassung ändern, um seine Macht auf unbestimmte Zeit zu erhalten, und Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro weiß sich auf die Proteste gegen seine Regierung nicht anders zu helfen als mit Repression und dem Einsperren politischer Kontrahenten. Zudem liest sich die Annäherung zwischen Kuba und den USA wie ein Eingeständnis der Castros an den Mängeln des lateinamerikanischen Sozialismus.

„Die Bevölkerung hat die Schnauze voll vom autoritären Regierungsstil dieser linken Regierungen“, urteilte der frühere Präsident Uruguays, Julio María Sanguinetti, kurz vor der argentinischen Stichwahl. In der urugayischen Tageszeitung República sagte er zu Brasilien und Venezuela: „Diese Regierungen werden verschwinden.“

Was Sanguinetti und viele andere Kommentatoren bei ihrer Kritik gern verschweigen: Es waren die gescholtenen „linken“ Regierungen, die die juristische Aufarbeitung der Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre anstießen. Der Widerstand der alten Eliten, die die Militätregierung unterstützt hatten oder – wie Macri – von ihr profitierten, war groß. Viele Argentinier hoffen daher, dass die Änderungen, die der neue Präsident vornehmen will, keinen Rückschritt bedeuten.

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