MERKELS NEUER KURS HILFT SCHRÖDER – ABER NUR KURZFRISTIG: Die Rückkehr des kleineren Übels
Endlich sind die Verhältnisse wieder klar. Vorbei die Zeiten, in denen die Parteien kaum noch zu unterscheiden waren. Jahrelang trat die Reformdebatte auf der Stelle, weil jede Position in jeder Partei irgendwie vertreten und mal dieser, mal jener Kurs als offizielle Linie verkauft wurde – ganz nach den Anforderungen des Tages. Lustlos stocherten nicht zuletzt Gerhard Schröders Sozialdemokraten in dem diffusen Reformbrei herum und zerstritten sich vorzugsweise selbst, mangels klarer Konfliktlinien zur Opposition.
Jetzt kann Schröder erst mal aufatmen. Nachdem sich die CDU auf einen rabiaten Reformkurs ohne Rücksicht auf soziale Verluste festgelegt hat, hat die SPD endlich wieder einen Gegner. Damit hält wieder ein Denkmuster Einzug, das im postideologischen Zeitalter schon vergessen schien: die Logik des kleineren Übels. Auch den Agenda-Kritikern in den eigenen Reihen dürfte es jetzt noch schwerer fallen als zuvor, die rot-grüne Koalition wirklich in Gefahr zu bringen. Denn seit Merkels Festlegung ist klar: Als Alternative droht wieder die schwarze Gefahr. Wer den Sozialstaat nicht mit Schröder abbauen will, der wird zusehen müssen, wie Merkel ihn ganz und gar abschafft. Und das ist eine Vorstellung, die – wie CSU-Chef Edmund Stoiber zutreffend erkannt hat – auch bei den meisten Wählern auf wenig Gegenliebe stößt.
Allzu entspannt sollte sich der Kanzler auf diesem Ruhekissen aber nicht zurücklehnen. So wenig mehrheitsfähig das Merkel-Konzept auch sein mag – es ist immerhin ein Konzept. Die CDU hat jetzt gesagt, wie sie sich das deutsche Sozialsystem der nächsten Jahrzehnte vorstellt. Rot-Grün dagegen betätigt sich, trotz des hochtrabenden Namens der Agenda „2010“, lediglich als Reparaturbetrieb. Solange es irgend geht, negiert die Regierung jeden Bedarf an grundsätzlicher Veränderung. Vermag sie das jüngste Loch in Haushalt oder Rentenkasse nicht mehr zu leugnen, kürzt sie hier und dort das Nötigste zusammen. Mit diesem rein defensiven Kurs wird sie auf die Dauer nicht durchkommen. Als Antwort auf die Eiserne Lady der Konservativen braucht das rot-grüne Bündnis ein eigenes Konzept, wie es sich einen sozial verträglichen Umbau des Systems vorstellt. RALPH BOLLMANN
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