Lyrische Erinnerungsreisen: Die Not der Anderen
Astrid Kaminskis lyrische Reportagen aus Athen über Cafe-Betreiber, Migrant*innen, Marktverkäufer und Hausbesitzer.
Während sich die Situation auf den griechischen Inseln wieder dramatisch zuspitzt, hatte sich die Lage im Zentrum Athens vor Covid-19 normalisiert. Zur neuen Normalität gehört ein etwa zehn Quadratkilometer großes Gebiet entlang der nördlichen Achsenstraßen Acharnon und Patision, wo Drogen- und Menschenhandel, Prostitution und alle möglichen anderen Geschäfte illegalisierter Bevölkerungsgruppen und derer, die Profit aus ihnen schlagen, zum Überlebensmodus gehören.
Die Gegend ist für alle Migrant*innen, die irgendwie von den Inseln wegkamen oder an ihnen vorbei, das Tor Europas sowie Schauplatz dessen, was passiert, wenn eine lokale Bevölkerung mit globalen Fragen alleingelassen wird. Auf Covid-19 hat das krisenerprobte Griechenland im europäischen Vergleich sehr früh reagiert, die Restriktionen des Alltagslebens waren weit strenger als in Deutschland. Die Zahl der offiziellen Todesopfer lag zuletzt unter 150. Ab dem 4. Mai werden erste Lockerungen erwartet. Reisen sind derzeit noch nicht möglich. Erinnerungsreisen dagegen schon. Unsere Autorin hat Streifzüge durch die letzten Jahre, seit dem „Wir schaffen das“-Sommer, unternommen.
Plateia Viktorias ¹
I
Wir geben auf
Warnten
Die Café-Betreiber
Vor vier Wintern
War das
Als die einzigen Gäste Heimatlose waren
Die nichts konsumierten
Außer Wärme
Die sie nicht zahlten
Viele gaben auf
Einige blieben
Café-Betreiber wie Gäste
II
Wer große Steine trägt
Versinkt
Schrieb Giorgos Seferis²
Ich stelle mir vor
Wie wir alle
Im Zentrum Athens versinken
Unter dem abendlichen Sternbild
Der europäischen Flagge
Auf der Plateia Viktorias Tor der Balkanroute
Afghanen Afrikaner Golden-Visa-Gangster
Echte Syrer Hipster Georgierclans
Große Schmuggler kleine Schmuggler
Die Barbaren die nie kamen³ Die Barbaren
Die immer schon da waren
Und die
Die nie
Kommen würden
Jahrhunderte später übergibt
Die Archäologie
Unsere Überreste an die Pathologie
Territorialkriege werden diagnostiziert
Menschen die an Häusern starben
Die sie wie Schnecken auf ihren Rücken trugen
III
Die Bänke die einst Betten waren
Sind wieder Bänke
Die Grünflächen die Zeltplätze waren
Sind Grünflächen
Die Zelte sind weg
Die Schlepper unsichtbar
Ein paar Cafés geschlossen
Neue haben aufgemacht
Mit halbierten Preisen
Halbiertem Komfort
Katalog-Interieur
Ich kaufe einen Saft
Granatapfel Ingwer
Die Frau neben mir
Kauft eine Spinattasche
Zusammen treten wir auf den Platz
Bleiben eine Weile in der Sonne stehen
Auf den Bänken afghanische Mütter
Auf den Mauern Männer
In Gummiturnschuhen
Auf einem Pappkarton
Eine Bettlerin mit Kind
Mit apathischen Augen
Starrt es vor sich hin
Vor ihm wuselnde Altersgenossen
Ihre Kämpfe ums Plastikspielzeug
Die Mutter streckt die Hand aus
Die Spinattaschenfrau beißt in ihr Gebäck
Dann bietet sie es dem Kind an
Das Kind lehnt ab
Die Frau insistiert
Drückt das angebissene Teil
An den zugekniffenen Mund
¹ Mittlerweile auch international bekannt als Victoria Square, Platz im ehemals bürgerlichen Zentrum Athens, gelegen an der Elektrikolinie zum Athener Hafen Piräus, umsäumt von Cafés. Hier sammelten sich die Geflüchteten, die von den Inseln aufs Festland gelangten, um ihre Weiterreise zu organisieren. 2015 entstand ein wildes Zeltlager, das inzwischen geräumt ist. Viktoria liegt im Zentrum der von Migration, Angst, illegalen und illegalisierten Geschäften sowie von Investitionswüsten geprägten nördlichen Innenstadt Athens. Hier sowie um den zentralen Omonia-Platz herum sind die wenigen verbliebenen Hilfsorganisationen und Sozialprojekte angesiedelt, u. a. das Melissa Network für geflüchtete Frauen, das zur documenta 14 gegründete Victoria Square Project oder das selbstverwaltete Geflüchtetenhotel City Plaza (bis Mitte 2019).
² Griech. Dichter, Diplomat und Nobelpreisträger, geb. 1900 in der Nähe des heutigen Izmir, gest. 1971 in Athen.
³ Bezug auf das Gedicht (1904) von Konstantinos Kavafis, 1980 veröffentlichte J. M. Coetzee einen Roman mit demselben Titel.
Die Not der Anderen – Kato Patissia ⁴
So hoch gebaut die Tendenz der Annäherung (Kiki Dimoula ⁵ )
Elenis schütteres Haar hängt ihr strähnig vors Gesicht
Sie zittert auf dem Campinghocker vor ihrer Wohnung
Während sie mit Tochter und Anwalt dem Schlüsseldienst
Beim Knacken und Austauschen des Schlosses zusieht
Die Tür – seit eineinhalb Jahren dicht – öffnet sich
Dahinter ein Schauplatz mutwilliger Zerstörung
Umgestürzte Möbel herausgerissenes Parkett Feuerspuren
Wie ein Set eines Kriegsfilms das nicht abgebaut wurde
Eleni schluchzt dass sie doch nur helfen wollte und jetzt das
Die Tochter tröstet dass man es wieder richten könne
Der Anwalt ordnet Migranten nach Herkunftsland
In eine Rangliste von gut über schlecht zu mordbegierig
Die hier wohnten hätten eine falsche Herkunft vorgetäuscht
Warum sie gegangen seien und wohin und mit welchen Traumata
Darüber ist nichts bekannt außer dass die Miete nicht bezahlt sei
Und dass man nie wieder reinfallen werde auf die Not der Anderen
⁴ Metrostation und letzter Bezirk der migrantisch geprägten Innenstadt Athens. Auf dem Kunst am Bau Objekt neben der U-Bahn-Station steht das Graffiti „Tod den Faschisten“.
⁵ Griechische Dichterin, geb. 1931 in Athen, gest. 2020 ebenda. Wohnte in Kypseli unweit des heute migrantischen Zentrums. In einem Nachruf wurde sie treffend als „Dichterin des Gefühls, nicht der Sentimentalität“, bezeichnet.
Gärende Süße – Agios Andreas ⁶
Eine Tüte nicht ein Tüte
Grummelt der Marktverkäufer
Eine Tüte wiederhole ich beflissen
Und stopfe korinthische Mandarinen hinein
Wie viel?
Nichts
Nichts?
Er nickt
Aber aber
Kein Widerspruch
Für korrekte Artikel
Gibt es ein Kilo Obst umsonst
Donnerstags auf dem Markt von Kato Patissia
Für mich die Vorzeigemigrantin mit deutschem Pass
Es ist fast drei
Die Preise purzeln
Wer Pässe hat und wer keine
Wird in der Ein-Euro-Hektik kurz egal
Danach scheiden sich die Wege
Die ohne gehen in ihre Souterrainverschläge
Die mit in die oberen Etagen mit Sicherheitstür Flagge
Und Kampfhund auf dem Balkon zum Schutz des Familienerbes
Es kommt die Zeit der Straßenfeger
Restesammler und Kinderbanden
Ein Verwirrter liest Orangen und Äpfel auf
Im Akkord mit Jungs in Orgelpfeifenformierung
Als er weiterzieht
Trifft ihn etwas im Nacken
Dann von vorn von allen Seiten
Kinder die wie Scharfschützen Orangen schmeißen
Die Vorzeigemigrantin in mir
Macht eine autoritäre Geste im Stil
Eines Proletengedichts von Jazra Khaleed⁷
Fake-Rap-Körpersprache die wirkt wie deutsche Pässe
Später sehe ich die Folgsamen
Umringt von Tauben auf einer Bank sitzen
Sie beißen in die Schale der angefaulten Orangen
Und saugen ihre kleinen aggressiven Körper mit Süße voll
⁶ Kirche in Kato Patissia, von griechischen Flaggen gesäumt, in einer von pakistanischen Einwander*innen geprägten Gegend.
⁷ Geb. 1979 in Grosny, Sowjetunion, griechischer Dichter bzw. „Proletendichter“ (Selbstbezeichnung) sowie Übersetzer von Untergrundlyrik der DDR ins Griechische, Herausgeber des Literaturmaga zins Teflon. Kämpft u. a. für die Anerkennung von Migrant*innen der zweiten Generation.
Feuer schneiden – Fokionos Negri ⁸
Mimi war beim unsichtbaren Friseur
Sie trägt jetzt einen Männerschnitt
Frauenschnitte gab es nicht
Und sowieso gab es nur
Schnitte für Haar wie ihres
Für meines gibt es keine Keller
Mit Untergrundsalons
Keine ermutigenden Blicke
Die sagen
Komm mit
Und denen man folgt
Ihrem Geschmack
Ihrer Intuition und dem Mut
Ihre Hand für Leute wie Mimi
Ins Feuer zu legen
⁸ Fast zwei Kilometer lange Straße ohne Autoverkehr, eine Seltenheit in Athen. Früher beliebte bourgeoise Flaniermeile. Seit den 1980er Jahren haben sich reichere Athener*innen in die Vororte zurückgezogen und sich u. a. viele afrikanische Migrant*innen und Geflüchtete hier angesiedelt. Infolge der „Flüchtlingskrise“ um 2015 gab und gibt es in dieser Gegend sowie um den gegenüberliegenden Platz Plateia Amerikis neben viel (teils ermüdeter) Hilfsbereitschaft auch rassistisches Ressentiment, thematisiert u. a. in den dokumentarischen Spielfilmen „Plateia Amerikis“ von Yannis Sakaridis und „Holy Boom“ von Maria Lafi.
Notruf – Zwischen Omonia⁹ und Fokionos Negri
Die Zeit in der Vierzehnjährige
Samt Teddybären ausgeplündert
Im Drogenschlaf auf der Straße lagen
Scheint vorbei
Sie dauerte lang genug
Um beim Anblick eines halbnackten Mädchens
Nicht mehr den Notruf zu wählen
Sondern nur kurz zu schlucken
⁹ zentraler Verkehrsknotenpunkt im Zentrum Athens in der Nähe des Zentralmarkts und des Parlaments. Der Platz und seine Umgebung sind heruntergekommen, geprägt von Drogenhandel, Kriminalität und Prostitution. Er ist Ausgangspunkt der „migrantischen Achse“ und erstes Verschönerungsobjekt des jungen Athener Bürgermeisters Kostas Bakogiannis (Nea Dimokratia, seit Sommer 2019).
Druckwasserstrahl – Plateia Viktorias
Morgens um kurz vor 6:00
Rattert mein Rollkoffer durch die Stille
Flattert eine Transgenderperson auf mich zu
Rabenartiges Gewand eine Aura aus Anmut und Wahn
Ein Transmitterstoff warnt mich wegzugucken
Irgendwohin aber irgendwo ist zu weit für die Kürze der Zeit
Eine Faust trifft mich im Nacken ich falle schlage auf ein Tritt setzt nach
Ein Mann von der Stadtreinigung geht mit einem Druckwasserstrahl dazwischen
Die Person fliegt weiter
Das Gefieder klebt ihr am Leib
Mein Laptop denke ich als Erstes als Zweites Warum ich
Dann gehen die Straßenlichter kurz aus und langsam verstehe ich mehr
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