Reisebuch über die Geschichte Istanbuls: Die Faszination der Stadt

Da wir Städte gerade nicht bereisen können, bleibt uns nur, über sie zu lesen. Eine literarische Reise in eine 3.000 Jahre alte Schönheit.

Vor der Skyline Istanbuls machen drei ältere Frauen ein Selfie.

Die Bevölkerung Istanbuls gibt den Takt des Landes vor Foto: Murat Sezer/reuters

Immobilienmakler haben ein geflügeltes Wort: Lage, Lage, Lage! Wie immer der Zustand eines Hauses oder einer Wohnung aussieht, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist die Lage. Was für Häuser und Wohnungen gilt, gilt erst recht für ganze Städte. Erfolg oder Misserfolg einer Stadt entscheidet sich oft daran, wo sie liegt, wie sicher ihre Lage sie vor Angriffen schützt und wie gut sie an das Netz von Handelswegen, Meeresstraßen und Häfen angebunden ist.

Für wenige Städte gilt das so sehr wie für die Weltstadt am Bosporus, die zunächst als Byzantion, dann Konstantinopel und zuletzt Istanbul jetzt schon mehr als 3.000 Jahre überdauert. Ihre Lage an der Meerenge zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer, ihre sicheren Häfen und ihr Platz auf einer Landzunge, durch eine gigantische Stadtmauer im Westen abgeschirmt, schufen die Voraussetzungen für ihre Erfolgsgeschichte.

Das begann in der Antike, wo Byzantion zwar von allen entscheidenden Händeln wie Perserkriegen und Alexanderfeldzug betroffen war und immer wieder zerstört wurde, aber egal unter wessen Herrschaft letztlich auch immer wieder aufgebaut wurde, „da sie strategisch so bedeutsam war“, wie der deutsche Historiker Malte Fuhrmann in seinem hervorragenden Buch, „Konstantinopel – Istanbul, Stadt der Sultane und Rebellen“, anschaulich beschreibt.

Deshalb traf auch der römische Kaiser Konstantin 324 die Entscheidung, das damalige Byzantion zu seiner neuen Hauptstadt Konstantinopel zu machen, nachdem er zuvor die Trümmer von Troja an den Dardanellen besichtigt hatte und danach entschied, dass sein Konstantinopel quasi die Nachfolge Trojas antreten sollte.

„Santa Sofia, stöhnte ein Matrose“

Doch nicht nur die strategische Lage macht den Erfolg einer Stadt aus. Sie muss auch durch ihre Schönheit begeistern. In einem jüngst neu aufgelegten Buch des italienischen Schriftstellers Edmondo De Amicis beschreibt er in einer berühmten Passage seine Ankunft in Konstantinopel mit dem Schiff vom Marmarameer aus. Nachdem er sich ein Jahr durch Lektüre auf die Reise vorbereitet hat, fiebert er nun der Ankunft entgegen.

„Erst war es ein weißer Punkt, die Spitze eines Minaretts, dessen unterer Teil noch im Nebel verborgen war. Dann, wie ein riesiger Schatten, ragte ein gewaltiges luftiges Gebäude, noch immer in einen Nebelschleier gehüllt, vom Gipfel einer Anhöhe in den Himmel und rundete sich herrlich in die Luft, von vier endlosen Minaretten umgeben, deren versilberten Spitzen in den ersten Sonnenstrahlen funkelten. Santa Sofia, stöhnte ein Matrose.“

Doch erst richtig geplättet war Amicis, als sein Schiff die Serailspitze umrundete und in das Goldene Horn einlief. „Eine Minute, noch eine, wir umschiffen das Kap – und ich sehe einen unermesslichen Raum voller Licht, voll unzähliger Dinge und Farben. Konstantinopel! Das immense, erhabene, wunderbare Konstantinopel! Ruhm der Schöpfung und des Menschen! Diese Schönheit hätte ich mir nicht träumen lassen!“

Amicis schrieb sein Reisetagebuch über Konstantinopel 1878. Heute erreichen wir die Stadt ja leider zumeist über einen ihrer Flughäfen und nicht mehr mit dem Schiff, aber dennoch hat die uralte Metropole auch heute nichts von ihrer Faszination verloren, wie Umberto Eco in einem Nachwort zur Neuauflage beschreibt.

Instanbul – Faszination einer Weltstadt

Worin genau diese Faszination besteht, haben Malte Fuhrmann und schon zwei Jahre zuvor die britische Historikerin Bettany Hughes mit ihren Werken „Stadt der Sultane und Rebellen“ und „Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt“ versucht herauszufinden.

Beide schauen von Außen, als nicht gebürtige Istanbuler auf diese Stadt, aber beide sind der berühmten Schönheit auch erlegen, als sie über viele Jahre dort lebten und arbeiteten. Beide haben versucht, die gesamte lange Zeitspanne, die die Stadt nun schon existiert, aufzubereiten und ihren Werdegang nachvollziehbar zu machen – sind dabei aber unterschiedlich vorgegangen.

Bettany Hughes bleibt auf ihren knapp 1.000 Seiten Stadtgeschichte sehr an der Chronologie hängen und beschreibt die Geschichte und Geschichten der Metropole so detailreich, dass man sich manchmal darin verliert.

Malte Fuhrmann: „Konstantinopel – Istanbul: Stadt der Sultane und Rebellen“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019, 464 Seiten, 26 Euro

Bettany Hughes: „Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017, 940 Seiten, 35 Euro

Edmondo De Amicis: „Istanbul, Hauptstadt der Welt. Mit einem Nachwort von Umberto Eco“. Corso Verlag, Wiesbaden 2014, 192 Seiten, 10 Euro

John Freely: „Stamboul Ghosts“. Cornucopia Books/Caique Publishing, Istanbul 2018, 144 Seiten, 22,50 Euro

John Freely, Hilary Sumner-Boyd: „Strolling Through Istanbul“. Redhouse Press, Istanbul 1972, 494 Seiten, 15 Euro

Anders Malte Fuhrmann. Der Historiker, der am Orient-Institut in Istanbul geforscht hat, danach an verschiedenen Universitäten der Stadt unterrichtete und heute am Leibniz-Zentrum in Berlin arbeitet, untersucht im gesamten Buch eine Fragestellung, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht: Welchen Anteil hatte und hat die Zivilgesellschaft an der Entwicklung der Stadt, wie haben die Untertanen, später die Bürger um ihr Recht am Anteil des Ertrags der Stadt gekämpft, und wie haben sie sich gegenüber den Mächtigen Gehör verschafft.

Zwischen Marmarameer und Bosporus

Herausgekommen ist ein Buch, das so faszinierend ist wie die Stadt, die es beschreibt. Naturgemäß wissen wir über die 3.000 Jahre zurückliegenden Anfänge wenig, und auch die Zeit der ersten Jahrhunderte griechischer Kolonisierung in Byzantion und dem gegenüberliegenden Chalkedon (heute der asiatische Stadtteil Kadıköy) bleibt bezüglich der Zivilgesellschaft noch weitestgehend im Schatten der Geschichte. Einen demokratischen Höhepunkt wie Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. erlebte Byzantion nicht.

Zur Weltstadt wurde die Kommune auf der Halbinsel zwischen dem Marmarameer und dem Bosporus auch nicht durch die Aktivitäten ihrer damaligen Bewohner, sondern aufgrund ihrer strategischen Lage, die Kaiser Konstantin nach jahrelangen Kämpfen um die Alleinherrschaft im römischen Reich 324 n. Chr. dazu bewog, hier seine neue Kapitale aufzubauen, weit weg vom Niedergang in Rom.

Aus dieser Entscheidung entstand Konstantinopel, ein Kaiserreich, ideologisch unterfüttert durch das Christentum, das, bei allen Höhen und Tiefen, sagenhafte 1.100 Jahre überdauerte, bis die Stadt 1453 endgültig von den Osmanen erobert wurde. Beide Autoren berichten darüber, wie selbst auf der Straße, unter den einfachen Leuten, leidenschaftlich über theologische Streitfragen diskutiert wurde.

Jahrhundertelang beschäftigte die Bevölkerung von Konstantinopel, ob Jesus nun gottgleich oder doch nur gottähnlich sei, der Vater dem Sohn nicht doch überlegen sei oder Vater und Sohn in einem gedacht werden müssten. Doch schon damals zeigte sich schnell, dass scheinbar religiöse Fragen vor allem Machtfragen waren.

Der Bruch mit Byzanz

Diverse Abspaltungen der orientalischen Kirchen in Syrien und Alexandria waren nicht zuletzt der Frage geschuldet, welches Patriarchat das führende innerhalb der christlichen Welt sein sollte. Und beim sogenannten Schisma 1054, als die orthodoxe und die lateinische Kirche endgültig getrennte Wege gingen, war es vor allem der wieder aufsteigende Machtanspruch Roms und des Westens insgesamt, der zum Bruch mit Byzanz führte.

Neben der Diskussion religiöser Fragen hegte das Volk von Konstantinopel noch eine weitere Leidenschaft: den Sport. Die Parteien der Wagenlenker, die im Hippodrom beim Wagenrennen um Geld und Ehre kämpften, hatten in Konstantinopel fast eine Funktion wie politische Parteien heute. Durch sie artikulierte sich der Volkswillen, im Hippodrom mussten die Kaiser sich rechtfertigen.

Der Aufstand der Rennsportparteien im 7. Jahrhundert, der sogenannte Nika-Aufstand, hätte den großen Justinian beinah hinweggefegt, noch bevor er den Auftrag zum Bau der Hagia Sophia vergeben konnte und bevor seine Generäle fast ganz Italien zurückeroberten.

Wenn auch nicht institutionell verankert, mischte sich die Bevölkerung von Konstantinopel doch immer wieder ein, wenn es um die Nachfolge bei Thronwechseln ging und forderte so ihre Beteiligung selbstbewusst ein. Für die erstaunliche Langlebigkeit des Byzantinischen Reiches dürfte die Verbundenheit der sich ständig durch Einwanderung erneuernden Bevölkerung mit ihrer Stadt und damit auch mit dem Reich ein wesentlicher Faktor gewesen sein.

Verlust einer Hauptstadt

Das galt in gewandelter Form auch für das Osmanische Reich. Zahlreiche Aufstände zeigten, dass auch ein Sultan nicht auf Dauer gegen die Bevölkerung der Hauptstadt regieren konnte. Anders als Bettany Hughes zieht Malte Fuhrmann den Bogen dann auch bis in die republikanische Türkei. Mit Ausrufung der Republik im Oktober 1923 verliert Istanbul die Rolle der Hauptstadt.

Bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde Istanbul von der neuen Republik verschmäht und vernachlässigt, doch dann setzte sich auch in der neuen Türkei ihre Lage und ihre Schönheit wieder durch. Zwar wuchs auch die Kopfgeburt Ankara zu einer Millionenstadt heran, doch die Massen zog es an den Bosporus.

Schnell wurde Istanbul wieder zum ökonomischen und kulturellen Zentrum des Landes, und wie in den letzten zwei Jahrtausenden zuvor ist es auch jetzt wieder die Bevölkerung der Stadt an den Meerengen, die den Takt des Landes vorgibt. Malte Fuhrmann schließt diesen Kreis mit seiner Schilderung des Gezi-Aufstands 2013, der erneut das Ringen um Teilhabe der Istanbuler Bevölkerung in einem zunehmend autoritären Staat zeigte.

Die Erwanderung Istanbuls

Was den beiden großen Stadtbiografien von Fuhrmann und Hughes fehlt, ist die sinnliche Erfahrung der Stadt, wie Amicis sie für das 19. Jahrhundert vermittelte. Diese Rolle spielte für das 20. Jahrhundert vor allem der amerikanische Schriftsteller John Freely. Freely ist der Autor, der, zunächst in den angloamerikanischen Ländern, später auch in Westeuropa, Istanbul neu präsentierte. Der Amerikaner irischer Abstammung kam Anfang der 60er Jahre als Lehrer an das damals noch amerikanische Robert-College nach Istanbul.

Zehn Jahre später erschien von ihm und seinem Kollegen Hilary Sumner-Boyd das Buch „Strolling Through Istanbul“, bis heute der immer wieder neu aufgelegte Klassiker für die Erkundung der Stadt. Freely hat sich wie viele nach ihm Istanbul erwandert und machte dabei immer wieder neue Entdeckungen von verborgenen Zisternen, verfallenen Kirchen und völlig unentdeckten Quartieren. Viele seiner über 60 Bücher widmete er Istanbul, der Türkei und dem Osmanischen Reich.

Die Menschen der Stadt stehen bei ihm im Mittelpunkt. So auch in seinem letzten, posthum herausgekommenen Buch: „Stamboul Ghosts“ eine Liebeserklärung an schräge Charaktere im Bohemian Istanbul. Das Buch ist illustriert mit wunderbaren Fotografien des ebenfalls legendären Istanbuler Chronisten Ara Güler, der 2018, ein Jahr nach Freely, seine Stadt für immer verlassen hat.

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