Lyrikband von Leonard Cohen: Ein Selbst, das nie feststeht
Noch im hohen Alter präsentierte sich Leonard Cohen als werdender Künstler. Ein neuer zweisprachiger Band ist sein literarisches Vermächtnis.
Lyrik entsteht an einem Ort, den niemand beherrscht und niemand erobert“, hat Leonard Cohen im Oktober 2011 gesagt, als er in Madrid mit dem Prinz-von-Asturien-Preis ausgezeichnet wurde. Sich selbst schließt er dabei mit ein. Ohne jeden Anflug von Koketterie lässt er die Anwesenden an jenem Abend wissen, er beherrsche Lyrik ebenso wenig. Erst durch die Lektüre des spanischen Dichters Federico García Lorca habe er eine eigene Stimme gefunden, Material für „ein Selbst, das nicht feststand“.
So hat sich Cohen auch noch im hohen Alter charakterisiert, als Künstler, der im Werden begriffen ist. Abgedruckt ist jene Dankesrede, genau wie Gedichte und Songtexte, zusammen mit zahlreichen Zeichnungen in dem zweisprachigen Band „Die Flamme – The Flame“. Es ist das Vermächtnis des 2016 verstorbenen kanadischen Künstlers, ein Vermächtnis, das er zu Lebzeiten begonnen hatte, aber nicht mehr fertigstellen konnte.
Das Projekt hat sein Sohn Adam Cohen nun mit Hilfe von Freunden des Vaters abgeschlossen. Obwohl Texte aus unterschiedlichen Jahrzehnten versammelt sind, ist „The Flame“ keine Loseblattsammlung. Die Mehrzahl der Texte stammt aus der späten Phase von Cohens Karriere, ab den 2000er Jahren bilden sie die Chronologie seines durchaus zähen Existenzkampfs. Der Weltstar musste damals von vorne anfangen. Teils hatte er sein Geld mit vollen Händen ausgegeben, teils hatte ihn seine Managerin um Einkünfte gebracht. Und trotzdem spricht aus den Zeilen in „The Flame“ keine Verbitterung, das Leben sei „curiously peaceful / behind the apparent turbulence / of litigation and advancing age“, schreibt er in dem Gedicht „The Apparent Turbulence“.
Nachgeborenen wird in „The Flame“ ein widersprüchlicher Mann nähergebracht; ein Mensch, der empfindsam ist und nach außen grantig wirkt, ein zaudernder politischer Kommentator, der seine Wahlheimat Los Angeles kritisch sieht, und ein überzeugter Städter, der noch Jahrzehnte nach seinem Wegzug Verbundenheit mit seiner Geburtsstadt Montreal äußert, der aber in der französischsprachigen Metropole als auf Englisch Schreibender und als Jude in der katholisch geprägten Gesellschaft Québecs Außenseiter bleibt.
Leonard Cohen: „Die Flamme – The Flame“. Aus dem Englischen von Nora Bossong u.v.a. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 352 Seiten, 36 Euro
Und ein Aussteiger, der schon in den Sechzigern auf der griechischen Insel Hydra lebt und von dort Flaschenpost-Nachrichten über die Gleichförmigkeit des Lebens versendet. Man erlebt einen Kindskopf, der nicht erwachsen sein will: „All my secrets / I’ve told to the pillow / Like a teenage girl / In a motown song“ und einen unverbesserlichen Womanizer, der nie schmierig klingt, wenn er über Frauen schreibt, sondern weise: „I’m slowing down the tune / I never like it fast / You want to get there first / I want to get there last“ („Slow“).
Mildes Brummen der sonoren Stimme
Dass das Leben aus Höhen und Tiefen besteht, aus Trauer und Angst, aber auch aus unsterblicher Liebe und augenblicklichem Hingerissensein, das kann man hier entdecken, oftmals in einem Text. „As the mist leaves no scar / On the dark green hill / So my body leaves no scar / On you, nor even will.“ Seine Oden an Frauen funkeln wie die Augen einer Geliebten, die er warmherzig-ironisch beschreibt: „I love Charmaine / Her heart is kind / I’m still a fool / She doesn’t mind // Her eyes are grey / But when I’m mean / Her eyes display / A shade of green“ (aus „I Hear the Traffic“). Man kann sich bei vielen Gedichten den Song dazu vorstellen, Cohens Sprache lebt vom Rhythmus, von der Wortwiederholung und der Einteilung in Strophen.
Hierzulande kennt man ihn vor allem als Singer-Songwriter, der zu karger Gitarrenbegleitung Texte in beeindruckender Ruhe vorträgt; im milden Brummen seiner sonoren Stimme klingen Cohens existenzialistische Vorstellungswelten gedimmt. Lange vor Welthits wie „Suzanne“ hat Cohen Mitte der Fünfziger zwei Gedichtbände veröffentlicht und 1966 den Roman „Beautiful Losers“. Obwohl er damals Preise und Stipendien erhält, kann Cohen von seinen literarischen Ambitionen nicht leben. Also beschließt er seine Poesie zu vertonen. Gitarrespielen hat er in einem sozialistischen Sommercamp als Kind gelernt.
Er bezeichnet sich selbst als unpolitisch, obwohl er 1961 aus Solidarität mit Fidel Castro nach Kuba geht. „Ein Anarchist, dem es unmöglich ist, Bomben zu werfen“, schreibt die New York Times über ihn. Schon mit seinem Debütalbum „Songs of Leonard Cohen“ (1968) feiert er Erfolge, jedes seiner ersten sechs Alben verkauft mehr als 500.000 Exemplare. Cohens Starwerdung geschieht zeitgleich mit dem Goldenen Zeitalter des Folk.
Er verkehrt im New Yorker Chelsea Hotel, ist mit KollegInnen wie Joni Mitchell und Bob Dylan befreundet, bleibt aber ein Solitär im Popbusiness. Für jene Vergangenheit interessiere er sich nicht, schreibt Cohen in dem Gedicht „School Days“, mehr interessiert sie sich für ihn: „I never think about the past / But sometimes / The past thinks about me / And sits down / Ever so lightly on my face“ („School Days“).
Leicht surrealer Gentleman im Anzug
Manchmal ringt er in „The Flame“ mit Gott, den er „G-d“ nennt, auch der Horror des Holocaust blitzt immer wieder auf. Mit seinen jüdischen Wurzeln hat sich Cohen intensiv auseinandergesetzt. Aus seiner Lyrik spricht etwas, das Theodor W. Adorno in „Minima Moralia“ postuliert hat: „Ein Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.“ Die Umstände mögen noch so negativ sein, bei Cohen besteht die Aussicht auf eine Wende zum Positiven.
Wenn, wie in dem Gedicht „My Lawyer“, von „junk that has killed the revolution“ die Rede ist, meint Cohen mit „Junk“ allerdings harte Drogen. In den Sechzigern ist er selbst eine Weile heroinabhängig. In der deutschen Fassung „Mein Anwalt“ steht, „die Revolution sei an Dreck krepiert“. Zum Glück lässt sich das englische Original lesen. „I love to speak with Leonard / He’s a sportsman and a shepherd / He’s a lazy bastard / Living in a suit“, heißt es an anderer Stelle in „Going Home“. Und so bleibt Leonard Cohen auch in Erinnerung, als leicht surrealer Gentleman im Anzug, der ein in jeder Hinsicht aufregendes Leben sportlich gemeistert hat.
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