Lukas Weber über männliche Sexarbeit: „Wir brauchen keine Scheindebatte“
Wenn es um Sex gegen Geld zwischen Männern geht, kommt schnell die Moral ins Spiel. Ein Gespräch mit Lukas Weber vom Berliner Verein Hilfe für Jungs.
taz: Herr Weber, wie viele männliche Sexarbeiter, wie der junge Mann aus dem Film „Boys Club“, gibt es in Berlin und in Deutschland?
Lukas Weber: Wir haben leider kein Zahlenmaterial, schon gar nicht deutschlandweit. Für Berlin geben unsere Jahresstatistiken Auskunft, mit wie vielen Menschen wir Kontakt in der Szene hatten. Unsere Mitarbeiter:innen treffen regelmäßig ein paar hundert Menschen, wir haben über 2.000 Kontakte im Jahr.
37 Jahre alt, ist seit 2020 Geschäftsführer des HILFE FÜR JUNGS e.V.
Hilfe-für-Jungs e. V. bietet Hilfe in verschiedenen Projekten an. Welche sind das?
Wir haben Subway als Anlaufstelle in der Kirchbachstraße in Schöneberg. Die wird von der Senatsjugendverwaltung gefördert, weil wir hier im Bereich des Kinderschutzes arbeiten, also mit Jungs und jungen Männern* unter 18 Jahren. Denn kein Minderjähriger darf oder soll oder muss sich prostituieren. Alles unter 18 gilt ohnehin als Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung. Wir werden auch im Bereich der Gesundheit gefördert, da geht es um HIV und sexuell übertragbare Krankheiten; wir sind zum Beispiel mit Ärzten in der Szene präsent.
Seit 1994 unterstützt „HILFE FÜR JUNGS e.V.“ Jungen* und junge Männer*, die von sexueller Ausbeutung und sexualisierter Gewalt bedroht oder betroffen sind. Der Verein beschäftigt über fünf Projekte verteilt insgesamt 29 Festangestellte. Das Projekt Subway ist das Gründungsprojekt, dieses Jahr wird es 30 Jahre alt.
Sie haben also einen guten Einblick in die Szene?
Wir haben einen guten Überblick darüber, was die offene mann-männliche Szene angeht, wie sie auch im Film dargestellt wird und wie sie im Schöneberger Norden und im Tiergarten stattfindet. Dort arbeiten hauptsächlich Roma aus Bulgarien oder Rumänien – diese Menschen würden wir aber nicht als Sexarbeiter bezeichnen, das würden die meisten von ihnen selbst auch nicht tun. Sie haben keine Eigenbezeichnung. Von Freiern werden sie Stricher genannt, das adaptieren sie ab und an, ohne die Bedeutung zu kennen.
Die Bezeichnung ist eine schwierige Angelegenheit. Sexarbeit ist nicht gleich Sexarbeit?
Ja, es wird ohnehin immer alles in einen Topf geschmissen. Aber gerade wir haben den Auftrag, zu differenzieren und zu sagen: Stopp! Es gibt Unterschiede zwischen Menschenhandel und sexueller Ausbeutung, Prostitution und Sexarbeit. Will man einen wirklichen Diskurs über das Thema führen, muss man definieren und vorab klären, wie man den Begriff meint. Nur dann können wir miteinander sprechen. Ansonsten hat jeder sofort irgendwelche Bilder im Kopf über die Jungs auf der Straße, über Zuhälter …
Mit welchen Problemen hat Ihre Klientel zu kämpfen?
Die Menschen, die wir treffen, sind oft mehrfach marginalisiert. Sie sind von Obdachlosigkeit, von Armut, von Migration und Flucht betroffen. Viele haben eine Drogenproblematik, wo schwierig zu erkennen ist, welches Problem zuerst da war. Verkaufe ich meinen Körper nur ab und an oder permanent? In diesen Spannungsfeldern bewegen wir uns mit unserem Projekt Subway.
Ein weiteres Projekt richtet sich gezielt an über 21-Jährige.
Es heißt Smart Berlin – und bei diesen über 21-Jährigen würde ich tatsächlich von Sexarbeitern sprechen. Das sind in der Mehrzahl Menschen, die freiwillig ihren Körper anbieten, denn das gibt es ja auch. Sexarbeiter stehen nicht immer nur auf der Straße und warten darauf, dass ein Auto anhält – das ist ein Minimalausschnitt. Alle, die beispielsweise Escortdienste anbieten, die Tabledance machen, die vor der Kamera agieren, die Massagen offerieren oder Telefonsex – den gibt es immer noch –, das alles ist Sexarbeit. Natürlich unterliegen auch diese Menschen dem Zwang der Ökonomie, des Geldverdienens. Zumal wir in schwierigen Zeiten leben, weil viele Leute in diesem Thema rühren, aus politischen Gründen.
Warum ist das so?
Momentan reden viel zu viele Gruppierungen, und zwar aus allen politischen Lagern, vor allem aber dem konservativen, über dieses Thema. Weil es zieht. Man ist schnell an dem Punkt zu sagen: Alles ist Menschenhandel, alles sexuelle Ausbeutung, der Ruf nach Law and Order wird laut. Da gibt es immer wieder Forderungen nach dem sogenannten Nordischen Modell: Verboten wird dabei vordergründig nicht die Sexarbeit an sich. Der Freier macht sich aber strafbar, wenn er Sexarbeit kauft. Alle Sozialarbeiter wären dafür, sagt die Bundestagsabgeordnete Dorothee Bär (CDU/CSU). Aber ich bin Sozialarbeiter und ich bin gegen das Nordische Modell.
Was stört Sie an diesen Debatten besonders?
Es ist eine verlogene, scheinheilige Debatte. Will man Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung wirklich verhindern, braucht es Geld für soziale Arbeit, für Armutsbekämpfung, für Wohnraum, für Polizei und Justiz. Egal ob Nordisches Modell oder nicht. Das ist nichts, was die Politik gerne hört. Da ist es leichter, eine Gesetzesverschärfung oder Strafen zu fordern. Das bringt vielleicht Publicity auf dem Rücken der Betroffenen, wird aber an deren Problemen nichts ändern. Mit der Moral-Debatte kann man derzeit überall punkten. Es geht um 10-Sekunden-Clips und eine Headline wie „Sexarbeit verbieten!“ oder „Wir retten unsere Frauen“. So was zieht, weil man nicht in den Diskurs einsteigen muss. Wir müssen die sein, die die Fahne hochhalten und differenzieren. Nicht überall stecken Menschenhändler dahinter. Aber wenn, dann brauchen wir gute Systeme, nicht nur Verbote.
Aber was braucht es dann neben Geld?
Aufklärungsarbeit, sichere Arbeitsplätze oder auch Ausstiegsmodelle zum Beispiel. Aber wir haben zu wenig Möglichkeiten, Menschen andere Perspektiven aufzuzeigen. Bevor wir das nicht schaffen, müssen wir keine Scheindebatte über Moral führen. Ob es okay ist, ein Freier zu sein oder seinen Körper zu verkaufen. Egal, ob es dabei um Frauen geht, die viel stärker davon betroffen sind, oder queere Sexarbeit. Es gibt in Berlin zum Beispiel nicht einmal eine Ausstiegswohnung für männlich gelesene Sexarbeiter.
Dafür bräuchte es eine weitere Finanzierung und mehr Personal?
Ja, und eine große Wohnung mit mehreren Zimmern oder mehrere Wohnungen. Es braucht psychische Betreuung und am Ende unterschiedliche Angebote für unterschiedliche Personen. Und wenn wir es wirklich mit Menschenhandel zu tun haben, sind das organisierte Strukturen, dann dürfen die nicht wissen, wo es solche Ausstiegswohnungen gibt. Also bräuchte es Polizeischutz und ganz andere Strukturen. Das sind aber Dinge, die in diesen Scheindebatten nie vorkommen.
Mit Verbieten wird also nicht alles gut.
Genau. Wir müssen gegen Ausbeutung vorgehen, aber nicht auf Kosten derer, die es freiwillig machen. Es wird zu viel pauschalisiert. Und es gibt viel weniger Aufmerksamkeit für queere oder männlich gelesene als für weibliche Sexarbeit – die wird prominenter wahrgenommen.
Wenn wir die Figur aus dem Film nehmen: Wie sehen konkrete Hilfen aus? Was können Sie tun?
Wenn wir mehr Geld hätten, könnten wir viel mehr tun. Die zwei großen Aufgaben vom Senat an uns sind: Wir betreiben Kinderschutz und Gesundheitsfürsorge. Unsere Anlaufstelle ist vier Tage die Woche geöffnet. An diesen Tagen können Menschen ihre basalen Bedürfnisse stillen. Es gibt einen Ort, wo weder Szene noch Milieu hineinkommt, es gibt keine Freier, sondern einen freien Raum.
Sie meinen einen sogenannten Safe Place?
Ganz genau. Hier bei Subway gibt es Essen, Getränke, tagsüber auch einen Schlafplatz. Es gibt die Möglichkeit, Dinge einzuschließen, wir haben eine Kleiderkammer. Diese basalen Bedürfnisse zu stillen klappt mal besser und mal eher nicht, wenn etwa psychische Probleme dazukommen, da muss man realistisch sein. Da fehlen uns Psychologen. Bei Subway landen Jungs* und junge Männer*, die auch andere Arbeiten verrichten würden, wenn sie dafür Geld bekämen. Viele unserer Klienten sind den Sommer über für Erntearbeit in Spanien oder wo auch immer, die ja oft genug mit Zwangsarbeit tun hat. Es geht darum, Geld für die Familie zu verdienen.
Stichwort Armut, Obdachlosigkeit, Drogen: Die Gesundheitsfürsorge ist umfassend?
Neben dem Ändern von Lebensumständen schauen wir, wie wir die Gesundheit schützen können. Im Fokus stehen vor allem sexuell übertragbare Krankheiten wie HIV. Obdachlosigkeit und Armut setzen einem Menschen zu, deshalb ist die umfassende Gesundheitsfürsorge so wichtig. Die meisten, die zu uns kommen, sind cis-Jungen und cis-Männer. Aber auch non-binäre und trans* Personen suchen Hilfe bei uns und sind sehr willkommen, auch beim unserem Projekt Smart, wo es um Aufklärung, Community, Vernetzung, Einstiegs- und Ausstiegsberatung und Austausch über Dinge wie Schutz vor Ansteckungen bis hin zu Steuertipps geht.
Kommen die Leute auf Sie zu oder sind Sie auch vor Ort unterwegs?
Wir sind zweimal die Woche nachts in der Szene unterwegs, ab 20 Uhr, meistens bis 0 oder 1 Uhr, je nachdem, was los ist, im Tiergarten und im Schöneberger Norden in den Kneipen. Man kennt uns und unser Logo, unsere Teams.
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