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Lothar Matthäus bei der EM 2000Ausweichen als Prinzip

In der Bild-Zeitung schreibt Lothar Matthäus, Mesut Özil spiele im DFB-Trikot ohne Herz. Der Blick ins Archiv zeigt: Der Franke war auch nicht besser.

Fühlte sich offenbar nicht wohl im DFB-Trikot: Lothar Matthäus während er EM 2000 Foto: dpa

„Özil fühlt sich nicht wohl im DFB-Trikot“, schreibt Lothar Matthäus auf der Titelseite der Bild. Der Mittelfeldspieler trete ohne Herz auf und habe nicht kapiert, was die Deutschen von einem Nationalspieler erwarten. Das zeige sich schon daran, dass er vor dem Spiel gegen Mexiko nach der Hymne nicht ins Publikum gewunken habe.

Immerhin: Damit ist Özil in guter Gesellschaft. Bei der EM 2000 in Belgien und den Niederlanden machte sich Matthäus ums Vorrundenaus der deutschen Mannschaft verdient. Vor der Partie gegen England schaffte er es nicht mal, bei der Hymne strammzustehen. Im Spiel selbst tauchte er dann ab. „Abtauchen, wenn es darauf ankommt“, stand über diesem Text, der am 19. Juni 2000 in der taz erschien.

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Charleroi taz | Drei Minuten vor dem Anpfiff ein kleiner Schreck. Die Nationalhymne läuft, Matthäus fasst sich an den Oberschenkel. Würde etwa schon wieder eine der 39,24-jährigen Muskelfasern streiken? Schon beim Strammstehen jetzt, vom Singen? Es geht gut.

In der 77. Minute, als Deutschland letztmalig auswechselte, hatte Lothar Matthäus sein ehrgeiziges persönliches Ziel erreicht: Er durfte durchspielen. Volle 90 Minuten, erstmals seit längerem also keine Altersteilzeit. Und der Ewige hatte gespielt, wie sein Mentor Erich Ribbeck redet: sich als Brennpunktflüchter immer aus allem raushalten.

Ausweichen als Prinzip – der eine den Zweikämpfen, der andere kritischen Fragen. Abtauchen, wenn es drauf ankommt, in der Tiefe des Raumes oder im Dickicht des vagen Wortes. Hier: andere arbeiten lassen, führerhaft herumscheuchen und das Spielgeschehen meist aus sicherer Warte beobachten; dort: Nullsätze produzieren und Konzeptlosigkeit kaschieren.

Immer dorthin, wo kein Laufduell droht

Das Tor: Abwehrchef Matthäus, der angetreten war, den Kritikern „das Maul zu stopfen“, steht beim Freistoß im Nirgendwo. Nicht in der Mauer, um Beckhams Freistoß zu blocken. Nicht im Abwehrzentrum, wo Shearer wartet. Er verfolgt nur staunend des Balles kunstvollen Flug. Matthäus ging auch stets dorthin, wo kein Laufduell drohte. Bei eigenen Angriffen stets weit hinter dem Defensivverbund. Wurde er da angespielt, konnte er scheinglänzen: Ball annehmen, zur Seite weiterleiten.

Selten wurde eine Statistik deutlicher ad absurdum geführt: Wahrscheinlich hatte Matthäus die meisten Ballkontakte (so wie Erich Ribbeck mit seinen weitschweifenden Statements die meisten Wortkontakte hat), wahrscheinlich machte Matthäus auch die wenigsten Fehler, aber er konnte keine Impulse setzen. Schon gar nicht mehr in der Schlussphase, wo es drauf angekommen wäre. Und er stattdessen ausgepumpt und nutzlos durch seine schiere Existenz in der deutschen Zehn+Eins einen Platz blockierte.

Matthäus habe „seine Leistung gebracht“, sagte Ribbeck nibelungentreuenfest. Sein Lodda sei „kein Leader“ gewesen, aber „auch kein Loser“. Und, mit dem hilflosen Hilferuf des trainernden Konditormeisters: Wer nach neuem Führungsspieler rufe, „soll uns einen backen“. Beide stehen sie vor dem Ende ihrer Karriere. Der eine muss für das Geschichtsbuch morgen noch die 150 Länderspiele voll kriegen und tritt dann vielleicht wirklich ab, der andere … Ja, was der eigentlich?

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