: Löcher in der Weltgesellschaft
Was passiert, wenn Menschen aus der Rolle fallen? Zum 70. Geburtstag von Niklas Luhmann beschäftigt sich eine Festschrift mit der Ausschlußlogik der Moderne ■ Von Niels Werber
Man darf wohl sagen, Niklas Luhmann hat es geschafft. Es gibt keine Zeitschrift, die Theorien kommunikativen Handelns oder Negative Dialektik heißt, wohl aber nennt sich eine Soziale Systeme. Eines der wichtigsten Bücher des Bielefelder Nestors der Systemtheoretiker ist damit zum Namenspatron für das Organ jener soziologischen Richtung geworden, die er zuerst eingeschlagen hat. Bösartige Zungen würden hier wohl von Epigonentum sprechen, doch belegt die Festgabe der Sozialen Systeme zu Luhmanns Geburtstag, daß das Interesse an derselben Theorie weder zu denselben Themen noch zu denselben Meinungen führen muß. Luhmann hat den Dissenz immer für produktiver gehalten als erstickende Einstimmigkeit: „Jede Kommunikation lädt zum Protest ein“ – und diese Ansicht zumindest scheinen seine Schüler übernommen zu haben.
Das recht bunte Gesicht der Systemsoziologie mag auch daher rühren, daß nie der Versuch unternommen wurde, eine „Schule“ regelrecht zu institutionalisieren – etwa in Form von Instituten, Graduiertenkollegs, Forschergruppen u.ä. Vielmehr hat Luhmann seit seiner Berufung an die Uni Bielefeld im Jahre 1969 in einem beispiellosen Ein-Mann-Unternehmen nicht nur eine originelle Form der Systemtheorie entwickelt, sondern diese auch in fast allen Bereichen der gegenwärtigen und vergangenen Gesellschaft erprobt – und durch Hunderte von Publikationen Anschlußforschungen in beinahe allen Disziplinen von der Theologie bis zur Wirtschafts-, Literatur-, Medien- und Rechtswissenschaft, von der Pädagogik bis zur Politologie ausgelöst. Kernstück seines wirkungsmächtigen wie fruchtbaren Paradigmas ist eine Theorie sozialer Differenzierung, welche die Moderne als Plural von Funktionssystemen wie Politik, Recht, Wirtschaft, Kunst, Religion, Liebe, Erziehung oder Wissenschaft versteht, deren Basiselemente Kommunikationen sind, an denen Personen nur nach Maßgabe je spezifischer Codes teilnehmen können. Die Eintrittsbedingungen sind von System zu System jeweils andere, doch für alle jeweils dieselben. Am Bancomat bekommen alle nur dann Geld, wenn sie ein Konto und eine PIN haben, wahlberechtigt sind alle, die gemeldet und über 18 Jahre alt sind; jeder, der an der Universität studieren will, braucht Abitur; jeder, der Recht bekommen will, kann nach bestimmten Konditionen klagen etc. Diese oft als Arbeitsteilung der Gesellschaft beschriebene Ausdifferenzierung erlaubt hohe Spezialisierung, da jedes System die nicht involvierten Rollen einer Person ignoriert und jeden nur soweit wie für die Systemkommunikation nötig einbezieht. Ob beispielsweise Herr Schneider schön zu aquarellieren versteht oder gut Auto fährt, ist vor Gericht gleichgültig. Nicht der „ganze Mensch“ findet Berücksichtigung, sondern nur seine Funktionsrolle, etwa als Angeklagter. Dies mag man als Entfremdung bedauern, doch ermöglicht dies dem Individuum unbezweifelbar auch höhere Freiheitsgrade. Denn wer Schulden hat, darf trotzdem wählen; wer eine Wahl verliert, kann trotzdem geliebt werden; wer Pech in der Liebe hat, mag Glück im Spiel haben.
Die Reputation, die sich jemand in einem System anhäuft, führt also nicht notwendig zu einem Guthaben, das in anderen Systemen ausgegeben werden kann: Mit Geld kann man zwar Kunstwerke und Sex kaufen, aber weder Geschmack noch Liebe, gute Ausbildung mag zu wissenschaftlicher Anerkennung führen, aber nicht unbedingt zu einem hohen Gehalt. Die Laufbahnen der Personen in den einzelnen Systemen sind also nicht sonderlich miteinander koordiniert – und dies ist typisch modern, denn im alten Europa reichte im Normalfall die Gnade der adeligen Geburt aus, um zur Spitze der Gesellschaft zu gehören und Vermögen, Rechtsgewalt oder auch Geschmack zu beanspruchen. Geboren zu werden genügt aber schon lange nicht mehr, um heute mit Erfolg Karriere zu machen.
Der Mensch erlebt diese unterschiedlichen Rollenanforderungen als Zumutung und beschreibt sich gegen diese Aufteilung seiner Person nach Leistungsbezirken aggressiv als unteilbar: als In-dividuum. Aus der Sicht der verschiedenen Sozialsysteme werden wir als Wähler, Kunde, Schüler und Student, Kind, Klient, Kläger, Geliebter oder auch als Wissenschaftler und Gläubiger wahrgenommen, und zwar nur soweit, wie wir den Gepflogenheiten gemäß kommunizieren – daß das Ich in allen Rollen dabei immer dasselbe bleibt, ist dagegen nur eine Erfahrung des eigenen Bewußtseins, die aber nur für uns selbst evident, für andere, für die Gesellschaft aber intransparent ist.
Vor diesem Hintergrund muß Luhmanns provokative Feststellung gesehen werden, die Gesellschaft bestehe nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen, denn Folgen für die soziale Ordnung hat nicht, was ich unbeobachtbar fühle oder denke, sondern was für alle sichtbar oder hörbar kommuniziert wird. Und was zwar sichtbar ist, aber nicht systemgerecht codiert, wird nicht wahrgenommen – was man etwa als Fremder in Japan feststellen kann. Nur codierte Kommunikationen finden Anschluß, doch das Subjekt der Moderne konstituiert sich jenseits der Systemkommunikationen. Der Ausschluß des Menschen aus der Gesellschaft leugnet daher nicht seine Existenz, sondern nimmt im Gegenteil seine Individualität ernst, die für Luhmann etwas ganz anderes ist als die Addition der kommunikativen Partizipation an Sozialsystemen. Der Plural der Rollen und der Singular des eigenen Selbst sind genauso zwei Seiten derselben Medaille wie Kommunikation und Bewußtsein, Gesellschaft und Psyche.
Wenn nun die Gesellschaft nicht den Menschen schlechthin betrifft, sondern ihn seinen Rollen gemäß erfaßt, dann darf die Frage gestattet sein, was passiert, wenn Leute aus der Rolle fallen. Gehören sie dann nicht mehr dazu? Dieser Frage Luhmanns folgt sein Nachfolger in Bielefeld, Rudolf Stichweh, der in eindrucksvoller Weise beschreibt, wie Personen vollständig aus der Gesellschaft herausfallen. Dabei geht es nicht um Marginalisierung, um Armut oder Obdachlosigkeit in den Unterschichten, sondern um die Entstehung einer „outer class“ im „Exklusionsbereich“ der Gesellschaft.
Exklusion bedeutet hier, jenseits aller Rollen und Gepflogenheiten der modernen Weltgesellschaften zu existieren. In den Ghettos, Slums und Favelas der Welt befinden sich keine Wähler oder Kunden, Wissenschaftler oder Patienten, Rechtssubjekte oder Sozialhilfeempfänger – sondern Körper, die ihre „soziale Adresse“ (Peter Fuchs) verloren haben. Ohne an den Kommunikationen der Moderne partizipieren zu können, sind sie zurückgeworfen auf einen Naturzustand, in dem nicht die hochkomplexen Regeln der Sozialsysteme den Umgang steuern, sondern die Unmittelbarkeit physischer Triebe wie Aggression, Begehren, Hunger. In diesen Distrikten lassen sich „Straßenkinder töten, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen“. Die Menschen dort werden auf ihre physische Existenz reduziert – und als bloße Körper finden sie dann Verwendung in der Pornographie, der Prostitution oder als medizinisches Ersatzteillager.
Stichweh vermutet, daß die Form der Differenzierung der modernen Gesellschaft selbst zu diesem Phänomen führe, da sich das Versagen in den einzelnen Rollen wechselseitig verstärke: keine Schulbildung, keine Jobs, keine Sozialversicherung, keine Krankenversorgung, keine Interessenvertretung, kein Rechtsschutz usf. Exklusion ist daher ein „kumulativer Sachverhalt“, für den niemand zentral verantwortlich zeichnet, weshalb Gegenmaßnahmen schwerfallen.
Diese Kumulation bevorzugt bestimmte Orte: Es gibt Stadtteile, die von der Polizei nicht betreten werden, es gibt Favelas, in denen die modernen Sozialsysteme keine Rolle spielen. Es fehlt dort jede Einbindung der Personen in Organisationen wie Parteien, Verbände, Firmen oder Schulen, welche normalerweise die Inklusion von Menschen in die Gesellschaft besorgen (Nassehi, Nollmann). Das „Fehlen von Arbeitsplätzen und Transportmitteln, Armut und Informationsdefizite“ machen diese „anderen Orte“ zu einem der „schwarzen Löcher“, von denen die Weltgesellschaft durchzogen sei. Wer dort hineinfällt, kommt nicht wieder heraus – es sei denn kraft seines Körpers wie manche Ausnahmesportler (Fuchs). Ein Favela-Bewohner Südamerikas weiß nichts von denen, die ein ähnliches Schicksal in einem asiatischen Slum durchleben müssen, denn „schwarze Löcher“ halten untereinander nicht den geringsten Kontakt, während die Weltgesellschaft global vernetzt ist. Was wir in den weltweit ausgestrahlten Sendungen der Massenmedien anschauen, sind gequälte Körper, für welche diese fünf Minuten globaler Aufmerksamkeit keine weiteren Folgen haben werden. Unser Mitleid ereicht nicht sie, sondern immer nur Hilfsorganisationen.
Die Weltgesellschaft inkludiert und exkludiert, und wer in einem „schwarzen Loch“ geboren wird, erleidet qua Geburt eine lebensentscheidende Ungnade, denn er gehört nie dazu. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO wird der Mensch über seine politische, rechtliche, wirtschaftliche oder auch bildungsmäßige Inklusion definiert. Nimmt man dies ernst, dann ergibt sich die triste Frage, ob in den „schwarzen Löchern“ noch Menschen hausen. Die Systemtheorie, der man gern einen affirmativen, unkritischen Charakter bescheinigt, hat auf die grausige Exklusionslogik der Moderne nachdrücklich hingewiesen. Ob diese erhellende wie düstere Festgabe das fröhliche Geschwätz von der im Internet vereinten Welt, der Menschheitsfamilie, der global community zu stoppen vermag, wird sich zeigen.
„Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie“. Jg. 3, Heft 2, Verlag Leske + Budrich, Opladen 1997, 45 DM
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