Live-Album von Krautrock-Band Can: Nummern ohne Ende
Aus alten Bootlegs hat Can-Keyboarder Irmin Schmidt ein orgiastisches Livealbum kondensiert. Zu hören ist ein Konzert aus Stuttgart, Mitte der 1970er.
Das Promotion-Geläut bimmelt durch die Plattenregale richtiger Sammler und Fans: Das Ehepaar Irmin und Hildegard Schmidt und ihr Label Spoon lesen abermals all jenen die Messe, die dachten, aus dem Archiv von CAN, der Signalband des Krautrock, wäre nichts mehr zu heben. Weit gefehlt: In unregelmäßigen Abständen werden ehedem vergessen geglaubte Aufnahmen und Tonbandschlaufen ausfindig gemacht, neu ediert, frisch verpackt, verknotet und dann hurtig über die sanft klebrigen Theken der Plattenläden vertickt.
Nach den „Lost Tapes“ (2012) kam die große, essenzielle, limitierte CAN-Box mit 17 Alben, dazu abermalige Neupressungen und Neuauflagen der klassischen CAN-Alben „Soundtracks“, „Tago Mago“, „Soon Over Babaluma“ und sowieso von allem, was je im Namen der Kölner Konservendose verfertigt wurde. Was während des knapp zehn Jahre währenden Bestehens der Band noch als das große Flow-Erlebnis gefeiert wurde, wird mittlerweile nicht mehr gespürt, sondern vor allen Dingen vermarktet. Was ja auch in Ordnung ist. Aber auch etwas amüsant für eine Band, die einst im Fernsehen noch klassenkämpferische Parolen von sich gab. Doch aus Überfluss droht bisweilen Überdruss zu werden.
In der Zwischenzeit ist aus dem kulturellen Erbe ein tatsächliches geworden, als nach dem viel zu früh gestorbenen CAN-Gitarristen Michael Karoli (1948–2001) innerhalb eines Halbjahresintervalls die Wegbegleiter Holger Czukay und Jaki Liebezeit (beide 1938 geboren) 2017 starben. Dem trommelnden Herz der Band, Liebezeit, wurde ein Buch und in Köln ein Club gewidmet, immerhin; das Solowerk Czukays, des alten Schnipplers, wurde in Form einer aufwendigen Plattenbox inzwischen auch gewürdigt. Gut! Der ungebrochenen Leidenschaft für die einzig große Band aus Köln – sorry, BAP! – tat das keinen Abbruch – der Mythos von CAN lebt weiter.
Wie stark diese mythische Verehrung nun tatsächlich wirkt, wird sich bald herausstellen. Der Lackmustest folgt wiederum in Form von marktgerecht aufgemachten Veröffentlichungen: „CAN LIVE Serie“ heißt die neueste Produktidee. Hinter dem schmissigen Namen verbergen sich restaurierte Bootlegs, also inoffiziell aufgenommene Konzertaufnahmen, die mithilfe der digitalen Technik endlich das CAN-Konzerterlebnis nach Hause bringen sollen. Warum eigentlich „endlich“?
Unaufnehmbare Konzerte
Statt „Man höre und staune“ hieß es jahrzehntelang „Staunt, denn es gibt nichts zu hören“! Genauso wie der Kölner Dom halt niemals fertiggestellt werden wird, weil sein Baumeister vor 800 Jahren den Teufel verärgert hat, galten CAN-Konzerte als unaufnehmbar. Mal fehlten Spuren wie etwa 1973 in Edinburgh, ein Jahr davor, in der Sporthalle in Köln, ging ein Mischpult kaputt. So blieb das Liveerlebnis genau dies: ein Erlebnis, unerfahrbar für die Nach- und Außenwelt. Dabei gewesen zu sein – oder qua später Geburt, fehlender Tickets oder geschmacklicher Verbrämtheit gelang das eben nicht.
CAN: „Live in Stuttgart 1975“ (Spoon/ Rough Trade)
Irmin Schmidt, das letzte überlebende Gründungsmitglied der Gruppe, hat deshalb gemeinsam mit CAN-Toningenieur René Tinner vorhandene Amateuraufnahmen gesichtet, aufbereitet und in der Studionachbearbeitung albumtauglich gemacht. Wie ein Fußballspiel dauert auch das Spektakel, das nun als „Live in Stuttgart 1975“ firmiert, 90 Minuten. Realiter hat das eher doppelt so lange gedauert; drei Stunden Spieldauer – exklusive Pause! – waren in den 1970ern keine Seltenheit, wenn der Jam von CAN allabendlich erst mal Fahrt aufgenommen hatte.
Die Vermarktung übernimmt Irmins Frau Hildegard, die zwar nie Mitglied der Band war, dennoch als ihr Kopf gelten darf. Immerhin hält sie seit 1980 die Managementfäden in der Hand – und ist in gewisser Weise die starke Frau und Architektin des deutschen Exportschlagers Krautrock. Apropos Fäden: Man denke zurück an Walter Benjamins Haschischexperimente in Marseille und seine Erkenntnis, dass man, „um den Rätseln des Rauschglücks näher zu kommen, über den Ariadne-Faden nachdenken“ müsse.
Die von Benjamin beschriebene Lust, „einen Knäuel abzurollen“, korreliert mit dem, was man anno 1975 auf die Bühne brachte. Das Knäuel, das hier abgerollt wird, heißt Rock – und am Ende des unendlichen Vergnügens aus Schrammelei, Gegniedel, Liebezeits tribalistischer Leidenschaft an den Drums und einem subtilen Groove steht ein saftiger Applaus. Ja, selbstverständlich hat dieses Livealbum eine Relevanz – trotz der oben genannten Überempfindlichkeit, die man ob der Veröffentlichungsstrategie hegen darf.
Mehr als nur Songs
Die Lust, etwas mehr als nur Songs zu wagen, sich ganz und gar dem Jam hinzugeben, merkt man eben nicht nur Karoli an, der hier wie ein großer Gitarrero aufspielt, sondern auch dem fast schon funky Bass eines Czukay. Schmidt selbst spielt eine vortreffliche „Light My Fire“-artige Orgel. Man hört hier sehr freie Improvisationen von bekannten CAN-Stücken und ihre Variationen wie zum Beispiel „Vitamin C“ und „Dizzy Dizzy“, sie tauchen wie Felsen in der Brandung eines gewaltigen Lärmspektakels auf.
Es ist, um Benjamin noch einmal zu bemühen, eine „Lust ganz tief verwandt mit der Rauschlust wie mit der Schaffenslust“. Während nun oben anderthalb Stunden geschafft wurde, wird heute wie damals gerauscht auf der Konsument:innenseite. Ganz praktisch, dass bei der Spieldauer von 35 Minuten, so wie beim dritten Lied, das Band scheinbar lang genug durchlief – oder, wie es die entfernt verwandten britischen Psychedelikfolkies Incredible String Band einst formulierten: „Be thankful for the song has no ending.“ Seid einfach dankbar dafür, dass diese Nummer wirklich kein Ende hat oder findet. Und trotzdem: Connaisseure kommen hier durchaus auf ihre Kosten.
Gerade für CAN-Neulinge gibt es ebenso Überraschungen auf dieser Veröffentlichung: Nein, CAN waren eigentlich nie die große Motorik-Krautrockband, das waren die Düsseldorfer NEU!; Ja, CAN konnten auf der Bühne durchaus nerven; und ja, man darf die Meinung vertreten, dass CAN mit dem Ausnahmeperformer Damo Suzuki am Mikrofon zwar nicht besser, aber überraschender waren. Dennoch sind die drei leuchtend orangefarbenen Vinyls, die den Einblick in den Sound Mitte der 1970er gewähren, keine Fehlinvestition. Wer sich die Mühe macht, den Rauscherlebnissen dieses Konzerts nachzuspüren, den erwarten wirklich entfesselte anderthalb Stunden von CAN live in Stuttgart.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!