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Literatur Über Diktaturen schreiben: ein Gespräch mit dem Schriftsteller György Dragomán„Empathie ist die größte Gegnerin der Macht“

Interview Stefan Hochgesand

Man kann Diktatur und ihre Historie rea­lis­tisch illustrieren. Oder man macht es brutaler, indem man in die Wahrnehmung der Figuren hineinzoomt, zeigt, wie Diktatur deren Blick verstellt, die Seele beschädigt. Der in Rumänien geborene Ungar György Dragomán hat das schon in seinem Debütroman, „Der weiße König“, getan. Ein Welterfolg. Sein neuer Roman, „Der Scheiterhaufen“, ist noch eindringlicher. An seine Landsleute Ágota Kristóf und Péter Nádas darf man denken – und an die Nobelpreisträgerin Herta Müller. Es geht um die Wende nach der Ceaușescu-Diktatur, erzählt anhand der persönlichen Wende der 13-jährigen verwaisten Emma.

taz.am wochenende: Herr Dragomán, Sie kommen aus Siebenbürgen, wie Herta Müller.György Dragomán: Ja, sie ist mir ganz nah. Mein Vater hatte politische Probleme, weshalb wir am Ende auch von Rumänien nach Ungarn übersiedelten. Er sagte mir immer: „Es wird eine Zeit kommen, dass wir es mit der Securitate zu tun bekommen. Herta Müller hat uns beigebracht, wie man sich bei einem Verhör benimmt.“ Das muss man sich mal vorstellen: Als ich 13 war, hat mir mein Vater nicht gesagt, wie man mit einem Mädchen umgeht, sondern wie man mit Polizisten umgeht. Mein Vater sagte: Wenn du Verhöre verstehen willst, solltest du Herta Müller lesen. Und er sagte: „Die einzige Möglichkeit, wie man die Securitate ­bedrohen kann, ist mit Suizid.“ Solch einen Ratschlag einem Kind zu geben, das ist doch verrückt, nicht?

Wie sollte man mit einstigen Securitate-Spitzeln umgehen?

Wir sollten erst mal wissen, wer sie waren. In Ungarn gibt es bis heute keine Akteneinsicht. In Rumänien weiß man ein bisschen mehr, aber in Ungarn werden die Akten geheim gehalten. Diese Geheimnisse werden eine lange Wirkung in die Gesellschaft hinein haben. Wir führen, ohne es zu wollen, die Arbeit der Geheimpolizei fort.

Welche Tabus gibt es denn im Ungarn der Gegenwart?

Für die Schriftsteller gibt es keine, für die Macht schon. Die Politiker schätzen die Freiheit nie genug. In den vergangenen 25 Jahren haben wir ganz viel von unserer Freiheit verloren.

Ist das den ­Menschen in Ungarn egal?

Nein, es ist nur hart, darüber nachzudenken. Die Politik hält mit ihrer Propaganda vom Denken ab. Die Leute sollen nicht darüber nachdenken, was Freiheit eigentlich heißt. Wenn sie es aber tun würden, würden die meisten doch zu dem Schluss kommen, dass Freiheit das Wichtigste ist. Mir zumindest geht es so. In allen meinen Büchern spreche ich darüber, wie Freiheit ist.

Sie schreiben in Ihrem Roman über Rumänien nach der Diktatur, aber man könnte diese Atmosphäre auf andere Länder übertragen. Richtig?

Ich denke, Macht ist immer dieselbe. Wie Macht eine Gesellschaft brutalisiert, ist eine universale Geschichte. Obwohl ich keine Universalgeschichte schreiben, sondern ganz nah an meine eigene Vergangenheit gehen wollte. Wie ich Kleinigkeiten gesehen habe.

Details, in denen der Kern steckt.

Ja, der ist da. Der Kern, aus dem überall etwas wachsen kann. Macht ist so. Vielleicht lesen die Leute ja deshalb meine Bücher gern, obwohl ich keine romantischen Geschichten erzähle. Ich denke, die Leute verstehen, worum es geht.

Was können Schriftsteller besser als die Historiker?

Ich denke, Schriftsteller sind Meister der Empathie. Und Empathie ist die größte Gegnerin der Macht. Deshalb sind Schriftsteller wichtig. Sie können Leute dazu bringen, die Wahrheit zu verstehen. Obwohl ich weiß, dass das idealistisch klingt.

In Ungarn sind Ihre Bücher Bestseller. Ihr Debüt war ein Welterfolg. Gibt es politische Versuche, Sie als erfolgreichen Schriftsteller zu lenken?

Nein, die Politik in Ungarn ist so: Schriftsteller sollen gar nicht über Politik schreiben.

Daran halten Sie sich nicht. Ihr Roman spielt in Rumänien, nur kurze Zeit nach der Ceau­șes­cu-Diktatur.

Die alten Geheimnisse sind noch da. Das sind im Grunde auch Rituale. Die Erinnerungskultur beinhaltet quasireligiöse Orte wie Denkmäler.

György Dragamán

wurde 1973 in Ungarn ge­boren. Sein Roman „Der Scheiterhaufen“(496 S., 24,95 Euro), aus dem Un­ga­ri­schen übersetzt von Lacy Kornitzer, erscheint bei Suhrkamp.

Wie nehmen Sie die Erinnerungskultur in Rumänien wahr, was die Diktatur angeht?

Ich weiß es nicht, ich lebe nicht mehr dort. 1998 bin ich mit meinen Eltern nach Ungarn gezogen und seitdem nie nach Rumänien zurückgekehrt.

Aber der Roman spielt in Rumänien. Sie sind nicht dorthin gereist, um zu recherchieren?

Nein. Es gab keine Recherchen. Ich habe auch nie behauptet, dass mein Roman historisch akkurat sei. Das ist meine Welt, und ich lebe in dieser Welt. Wie auch in meinem ersten Buch. Ich wusste, Recherche würde mir nicht helfen. Ich würde keinen historischen Roman schreiben, sondern über Macht, Diktatur und Freiheit.

Man könnte ja zunächst meinen, Ihr Buch sei ein historischer Roman, aber Sie zoomen extrem nah heran. Man beobachtet etwa eine Ameise, wie sie eine Wimper trägt.

Ich denke, Historiker sind schlechte Romanciers. Geschichte besteht auch aus Romanen, aber aus schlechten Romanen. Ich versuche, mich von Geschichte fernzuhalten.

Wie bitte? Sie nähern sich ihr doch literarisch.

Was ich versuche: Geschichte ganz ganz nah zu erzählen. Was mich interessiert: Wie man Geschichte wahrnimmt, während sie passiert. Diese ganz persönliche Perspektive. Besonders die adoleszente Perspektive zwischen Kindheit und Erwachsensein ist gut, um Revolution zu verstehen.

Ihre Protagonistin ist Emma, eine 13-jährige Waise. Sie wird von einer mysteriösen Frau von der Schule genommen. Die Frau behauptet, Emmas Großmutter zu sein.

Emmas ganze Welt ist eine Unsicherheit. Die einfachsten Wahrnehmungen muss sie infrage stellen. Emma hat natürlich keine Ahnung, wer diese geheimnisvolle Frau ist. Mit einem Trauma kann man auf zwei Weisen umgehen: alles vergessen, weggehen. Darum geht es in meinem Buch aber nicht, sondern um die andere Methode: alles erinnern, alles herausfinden und verstehen. Was Emma passiert ist. Doch Emmas neues Leben ist das alte Leben. Zugleich ist Emma der Welt entzogen, denn die Großmutter hat ihre eigene mythische Religion erschaffen. Ein eigenes Gefängnis, ein brutales.

Dass die alte Frau Emma aus ihrem Umfeld herausreißt, wirkt brutal, aber auch magisch. In einer Kaffeetasse entsteht ein Bild der toten Mutter. Wie gelangt das Magische in Ihre vermeintlich so realistischen Stoffe? Was hat Sie beeinflusst?

Viel Früheres. Die jüdische Tradition aus Osteuropa interessiert mich. Auch Isaac Bashevis Singer, der Nobelpreisträger von 1973. Bei ihm verwandelt sich Religion in Magie, bei mir Magie in Religion. Als so was in meinem ersten Buch plötzlich auftauchte, war ich selbst erschrocken. Ich hatte keine Ahnung, dass ich so etwas schreiben könnte!

Zur Mythologie in Ihrem Buch gehört, dass die Großmutter mit Kreide auf Bäume schreibt. Was sie sich wünscht, schreibt sie rückwärts.

Historiker sind schlechte Romanciers. Ich versuche, mich von Geschichte fernzuhalten

Sie hat eine eigene Welt von Ritualen entwickelt. Die einfachsten Dinge verwandelt sie ins Ritual. Fast alles, was sie tut, ist Ritual. Ich weiß nicht, woher das für sie kommt, und ich weiß nicht, woher das für mich als Autor kommt. Das sind keine existierenden Rituale. Ich habe sie nicht in der Vorvergangenheit recherchiert. Die Großmutter manipuliert die Wirklichkeit.

Wahrnehmung ist ganz wichtig in dem Buch.

Wir sehen, was die Figuren sehen. Und wir sehen sogar in die Hirne der Figuren, hinter ihre Augen. Wie sie denken, die Protagonisten. Für die Großmutter ist daraus eine Religion gewachsen. Ich dachte anfangs, das sei Unfug. Aber sie weiß, was sie tun muss: Sie kämpft mit der Wirklichkeit. Diese Rituale sind ein Kampf, um die Wirklichkeit samt der Vergangenheit zu besiegen.

Und sie versucht auch, Emma diese Rituale aufzubürden.

Vielleicht erschafft die alte Frau somit ihre eigene Diktatur. Emma muss zweimal die Freiheit finden. Von der Enge der Diktatur und auch von der Wende.

Haben Sie in Ungarn Ärger für das Buch bekommen?

Bei der ungarischen Ausgabe steht hinten auf dem Umschlag: „Wir haben nicht für die Freiheit gekämpft, damit uns am Ende wieder die Dummen regieren.“ In einer TV-Sendung haben dann konservative Denker über mein Buch geredet, ohne es gelesen zu haben. Sie dachten, es erzählt vom heutigen Ungarn. Sie sagten: „So was ist gegen die Regierung. Wer so was behauptet, sagt, dass alle, die die Regierung gewählt haben, dumm seien. Das sollte er nicht sagen.“ Ich entgegnete: „Ich spreche nicht über Ungarn, sondern über meine Welt.“ Aber in Ungarn liest man es eben anders. Kürzlich hatte ich in Budapest ein Interview mit Navid Kermani. Das war eine Nachricht in Ungarn, als ich ihm sagte: „Das ist ekelhaft, wie Ungarn mit den Flüchtlingen umgeht.“ Die Regierung will, dass alle sie in Ruhe lassen. Aber das wird natürlich nicht passieren.

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