Linke Opposition in Russland: Viereinhalb Jahre Lagerhaft
Der Linke Sergej Udalzow und sein Mitangeklagter Leonid Raswosschajew werden wegen Aufrufs und Organisation von Massenunruhen verurteilt.
Moskau taz | Der Angeklagte trat wie immer ganz in Schwarz auf. Eine gepackte Reisetasche für den Gefängnisaufenthalt hatte er zur Verhandlung gleich mitgebracht. Denn mit einem Aufschub der Haft rechnete Sergej Udalzow, der am Freitag in einen Hungerstreik trat, nicht mehr. Neben Utensilien für den täglichen Bedarf waren vor allem Bücher in der Tasche. „Ich rechne damit, sofort ins Gericht zu gehen“, sagte der 37jährige.
Russlands bekanntester Linker ist aufs Gefängnis vorbereitet und tritt die Haft ganz im Stile der großen revolutionären Vorbilder an. Die letzten anderthalb Jahre hatte er in Hausarrest gesessen, ohne sich politisch zu Wort melden zu dürfen. Der Koordinator der „linken Front“ war nach den Massenprotesten gegen die Fälschungen bei den Dumawahlen im Dezember 2011 auch zu einem der Wortführer der Opposition geworden.
Am Donnerstag verurteilte ein Moskauer Gericht ihn und den Mitangeklagten Leonid Raswosschajew zu viereinhalb Jahren Lagerhaft. Es sah es als erwiesen an, dass Udalzow im Mai 2012 zu Massenunruhen aufgerufen und sie auch organisiert hatte. Bis in die Provinz hätte er dafür geworben, hieß es sinngemäß. Außerdem sei es das Ziel gewesen, in der Nähe des Kreml eine Zeltstadt nach dem Vorbild der Orangen Revolution in Kiew zu errichten. Das Gericht sah es ebenfalls als erwiesen an, dass er von einem georgischen Politiker für die Umsturzabsichten Gelder erhalten hatte.
Die Orange Revolution und das widerspenstige Georgien sind rote Tücher für Moskaus Machthaber. Am 6. Mai 2012 organisierte die Opposition den sogenannten „Marsch der Millionen“. Mehr als 50000 Demonstranten nahmen an der Demonstration teil, die sich am Vorabend der Inauguration Wladimir Putins gegen dessen Wiedereinzug in den Kreml richtete.
Bewusste Eskalation der Sicherheitskräfte
Der friedliche Protest endete jedoch in einer Schlägerei. Sicherheitskräfte hatten es bewusst auf eine Eskalation angelegt, stellten verschiedene Untersuchungskommissionen später fest, darunter auch der präsidiale Menschenrechtsrat. Mehrere hundert Demonstranten wurden auf dem Kundgebungsort, dem Bolotnaja-Platz, festgenommen.
Die „Bolotnaja-Sache“ steht seither für eine beispiellose Verhaftungswelle und Dutzende Verfahren, die mit langjährigen Haftstrafen wegen Teilnahme an Massenprotesten endeten. Nach der Demonstration waren nochmal 650 Personen festgenommen worden. Einigen Inhaftierten stehen die Verfahren immer noch bevor.
Im Casus „Bolotnaja“ wurden massenhafte Rechtsverdrehung und die offene Manipulation von Beweisen zum Prinzip erhoben. So legten mehrere Moskauer Ermittler aus Protest gegen die erfundene Beweislage die Arbeit nieder und mussten durch neue Kräfte aus der Provinz ersetzt werden. Der Kreml sandte damit das Signal aus, dass er in der neuen Amtszeit des Präsidenten Putin keinerlei Opposition mehr dulden werde. Das wurde bislang konsequent umgesetzt.
Dennoch lässt der Kreml Gnade walten: Die Staatsanwaltschaft hatte noch auf acht Jahre Lagerhaft plädiert. „Das Urteil spiegelt die Überzeugung der Obrigkeit wider, dass ein neues Bündnis zwischen linken und liberalen Kräften inzwischen unmöglich ist“, schrieb Vedomosti. Dafür sei vor allem die Begeisterung über die Rückholung der Krim verantwortlich. Auch Udalzow hatte die Annexion der Insel zuvor begrüßt.
In der Tat hatten sich vor dem Stadtgericht nur einige Dutzend Demonstranten eingefunden. Die Zeit der Opposition ist vorbei. Laut Menschenrechtlern und Prozessbeobachtern genügte das Verfahren in keiner Weise rechtstaatlichen Kriterien. Udalzow und Raswosschajew gehen in Revision. Klage beim Europäischen Menschengerichtshof wurde auch schon eingereicht.
Acht Stunden lauschte Udalzow stehend der Urteilverlesung, so wie es das Reglement verlangt. Wer sich nicht mehr aufrecht halten konnte, wurde des Saales verwiesen. Raswosschajew durfte jedoch im Sitzen zuhören. Wohl, weil er in einen Glaskäfig eingesperrt war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten