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Lieber Eric

Der tschechisch-deutsche Mediziner und Publizist Jan Příbaň wendet sich in einem Brief an seinen Freund aus Studienzeiten, der damals verbotene Literatur nach Prag schmuggelte

Ich lese gerade in der Zeitung, wie am 20. August 1968 Heinrich Böll nach Prag fuhr. Er freute sich auf den Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Einen Tag nach seiner Ankunft war die Freude zu Ende, denn zu Ende war auch der Prager Frühling. Du fuhrst dann auch nach Prag, und das hatte ebenfalls mit Literatur zu tun. Das war in der Zeit der „Normalisierung“ – so wurde nach dem Einmarsch 1968 die „Konsolidierung“ der Politik in unserem Land genannt. Du ließt Dich von mir „verleiten“, „subversive Literatur“ zu schmuggeln. Organisiert wurde dies von Paris aus und anderen europäischen Städten. Für Dich war es vielleicht eine abenteuerliche, auch risikoreiche, aber doch nur zweitrangige Episode Deines Studiums in Freiburg, die ich jedoch sehr geschätzt habe. Deswegen möchte ich Dir einige Gedanken über die damalige Zeit mitteilen.

Ich finde die Bezeichnung Prager Frühling etwas irreführend, denn der demokratische Prozess begann bereits vorher im slowakischen Teil des Landes. Dort hat viel früher eine demokratische Diskussion stattgefunden, auch mit Beteiligung der Presse. Das ist mir wichtig, denn einundzwanzig Jahre später, nach der „samtenen Revolution“ vom November 1989, fuhr der erste Präsident der freien Tschechoslowakei, Václav Havel, zuerst nach München und Berlin. Die Slowaken hatte er vergessen. Für mich war das seltsam. Als ob Symbole nicht wichtig wären. Ich habe das als Degradierung der Slowaken empfunden. Ich bin überzeugt, dass bereits hier der Samen des Untergangs des gemeinsamen Staates gesät wurde.

Dagegen hatte ich ein ganz anderes Gefühl, als ich am Anfang der siebziger Jahre einmal Rudi Dutschke begegnete und er mir erzählte, wie inspirierend für die deutsche Linke die Bürgerinitiativen in der damaligen Tschechoslowakei gewesen seien. Man konnte damals in Westdeutschland unglaubliche Sympathie für die Tschechoslowakei spüren, aber auch Bedenken, wie lange die UdSSR diesen Prozess noch tolerieren werde. Nach dem Einmarsch war die Unterstützung für unsere Flüchtlinge enorm. Viele Schriftsteller sind emigriert. Der Spiegel und Die Zeit gründeten einen Fonds für tschechoslowakische Intellektuelle.

Aber zurück zum Einmarsch. Auch die Parteiführungen in Polen und der DDR drängten darauf, diese Demokratisierung zu unterbinden. Sie hatten Angst um ihre Macht. Ich erinnere mich an eine Karikatur von Ivan Steiger (später Karikaturist in der FAZ) in Anspielung auf das Kommunistische Manifest: In Europa geht ein Gespenst um, das Gespenst der Tschechoslowakei.

Man muss sich die Situation 1968 in Europa vor Augen führen – Revolte gegen das kapitalistische Establishment in Frankreich und in Italien. Nun kamen die Tschechen und Slowaken mit ihrem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Insofern hat die Sowjetunion mit ihrem Einmarsch dem Westen in die Hände gespielt. Sie zeigte ihr rücksichtsloses Gesicht, indem sie gegen ihren Satelliten militärisch vorging. Und sie diskreditierte nachhaltig die Idee des Sozialismus – auch bei vielen Linken im Westen. Von 1968 bleibt ein blinder Hass gegen Russland, als ob die UdSSR noch existieren würde. Dabei hatten auch dort Oppositionelle gegen den Einmarsch protestiert und Repressalien erlitten.

1993 kam es zur friedlichen Teilung der Tschechoslowakei. Heute gehören Tschechien und die Slowakei der EU an. In Tschechien ist ständig der Komplex eines kleinen Staates präsent, mit dem die Mächtigen spielen, der aber auch mit sich spielen lässt. Nun denn, wir leben im Kapitalismus. Vielleicht kommt wieder jemand mit der Idee eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Doch mit unserem menschlichen Antlitz haben wir keine gute Erfahrung gemacht.

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