Libertinage in den USA: „Wir müssen den Sex verteidigen“
Die amerikanische Historikerin Dagmar Herzog über Obamas Triumph, Angst vor Sex, eingeschränkte weibliche Selbstbestimmung und die Macht des „Pink Money“.
taz: Frau Herzog, wir wollen über Politik und Selbstbestimmung reden. Bedeutet der Sieg Obamas auch einen Triumph für die sexuellen Bürgerrechte?
Dagmar Herzog: Ja, und das ist so erleichternd. Es geht einerseits um die Homoehe, aber auch um Verhütungsmittel für arme Frauen – und um ein richtiges Verständnis von Vergewaltigung. Zwei republikanische Politiker haben im Wahlkampf ganz offen gesagt, das Frauen auch im Fall einer Vergewaltigung das Kind austragen sollen.
Wie bitte?
Nicht nur: Kein Recht auf Abtreibung! Sondern auch: Es sei ja von Medizinern erwiesen, dass der weibliche Körper, wenn er wirklich keine Lust auf diesen fremden Mann hätte, gar nicht schwanger würde. Das hat eine unglaubliche Reaktion ausgelöst.
Eine depressive wie bei vielen Liberalen und Linken vor vier Jahren?
Eine wütende. Das hat eine immense Mobilisierung bewirkt, eben auch unter konservativen Frauen. Das Gleiche passierte im Fall der Verhütungsmittel: Eine junge Studentin hatte im Kongress berichtet, wie wichtig es für sie gewesen sei, staatliche Unterstützung für die Pille zu bekommen.
geboren 1961, ist eine der wichtigsten Analystinnen der US-amerikanischen Sexualpolitiken. Sie lehrt Geschichte an der City University of New York.
In ultrakonservativen Medien wurde sie dann als Nutte bezeichnet, das war sehr hässlich. Aber das Gute war: Die liberalen Frauen fanden so ihre Stimme wieder – und auch die konservativen protestierten.
Noch vor Kurzem waren Sie und viele andere progressive Kräfte in den USA wenig optimistisch.
Bis vor zwei Monaten war ja überhaupt nicht klar, dass Obama gewinnt. Wir können David Corn von Mother Jones dankbar sein für dieses Video, in dem Romney sagte, das 47 Prozent der Amerikaner nur von Regierungsgeldern leben … – da wurde vielen Ärmeren im Land klar, dass Romney wirklich nur für die Millionäre da ist. Und dann kam auch noch „Sandy“ – die Republikaner hatten ja immer behauptet, dass es den Klimawandel gar nicht gibt.
Mitentscheidend für Obamas Sieg sollen die Stimmen der Schwulen und Lesben gewesen sein, hört man.
Ja, allerdings. Hillary Clinton hatte ja schon im Dezember in Genf gesagt, dass weltweite LGBT(Lesbian, Gay, Bisexual und Trans)-Rechte ein neuer Eckstein ihrer Außenpolitik werden würden. Im Sommer hatte sich dann auch Obama für die Homoehe ausgesprochen – und mittlerweile ist die Hälfte des Landes dafür. Das ist großartig.
Die Homoehe wird sich durchsetzen?
Ja, ganz sicher. Wir werden gewinnen. Man braucht in diesem Kampf zwei Ebenen. Zum einen muss man ganz viele liebende, gleichgeschlechtliche Paare zeigen. Man muss Liebe zeigen, viel Liebe, auch wenn es sentimental klingt – das ist so wichtig, um die Leute zu gewinnen. Aber man braucht auch einen Hebel.
Sie meinen: einen Baseballschläger?
Ja. Ich meine: Auf die Dauer hilft nur Power. Obama war sich ja auch lange unsicher, ob er bei dem Thema einsteigen soll. Aber dann wurde Druck auf ihn ausgeübt, und zwar von seinen finanziellen Unterstützern. „Pink Money“, zwei seiner wichtigsten Geldgeber für den Wahlkampf waren Schwule, und die haben dann gesagt: Jetzt mach mal, Obama, sonst bekommst du kein Geld. Das war der heilsame Druck.
Worauf gründet eigentlich dieser konservative Gegendruck, dieser sexualpolitische McCarthyismus der Konservativen in den vergangenen 20 Jahren?
Vor allem die acht Bush-Jahre haben unglaublichen Schaden angerichtet. Bei der Sexualität gibt es immer Ambivalenzen, die Leute wollen sich da häufig nicht mit Freiheiten konfrontiert sehen. Und das haben die Republikaner ausgenützt. Wer hätte sich denn in den Neunzigern vorstellen können, dass man den eigenen Jugendlichen erklärt:
Ihr dürft keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben? Niemand. Bush hat ganz zynisch und offen gesagt: Wir machen jetzt Abstinenzerziehung für alle, wir werden das benutzen, um Leute auf unsere Seite zu bringen. Das hat unheimlich gezogen, diese Angst vor der Sexualisierung der Jugend.
Da wurde ja offenbar mit starken Ressentiments gearbeitet.
Und das hatte einen homophoben Schlag, es hatte einen rassistischen Klang und einen frauenfeindlichen Spin. Alle drei Aspekte waren sehr wichtig für diesen „McCarthyismus“, was die sexuellen Bürgerrechte anbetrifft. Auf einmal klagten hysterische Eltern vor Gericht, weil die Sexualerzieher in der Schule das Thema Homosexualität erwähnt haben.
Dieser „McCarthyismus“ – der ist ja zivilgesellschaftlich ganz gut organisiert, etwa in den christlich-fundamentalistischen Kirchen. Trotzdem wundern wir uns, dass diese Kampagne so gut funktioniert. Warum ist das so?
Sexualität hat keine Lobby. Als ich mein Buch über die religiösen Rechte geschrieben habe, das war in den Bush-Jahren, da haben mich auch ältere säkulare, liberale, demokratische Frauen angeschaut, als ob ich vom Mars käme – weil ich der Meinung war, das Jugendliche selbst entscheiden sollen, ob sie vor der Ehe Sex haben oder nicht.
Diese Leute waren verunsichert, ängstlich. Ich musste immer nach Europa kommen, um zu sehen, wie Leute auf der Straße knutschen und sich liebevoll den Po tätscheln. Das erlebt man in den USA gar nicht so oft. Ich meine: Einerseits ist die ganze Gesellschaft mit diesem Sex-Geschnatter durchtränkt, aber gleichzeitig sind da diese starken Strafaffekte.
Strafen wofür?
In öffentlichen Schulen wurden dreckige Turnschuhe hochgehalten – als Symbol der verlorenen weiblichen Virginität wegen vorehelichem Sex. Man ist schmutzig, man ist verdreckt. Und dann der Rassismus. Abstinenzerziehung hat ja eigentlich seine Ursache in der Reagan-Ära, sie war Teil eines bundesweiten Wohlfahrtsprojekts für schwarze, alleinerziehende Mütter.
Das war ein Doppelprogramm: Wie ist man eine gute Mutter und wie kann man abstinent leben? Die schwarzen Wohlfahrtsempfängerinnen sollten keine Kinder mehr bekommen, und das war nicht einmal sehr subtil rassistisch.
Es gibt aber doch eine große Gegenbewegung: Immerhin sind vier Plebiszite in den USA zugunsten von Homosexuellen ausgegangen.
Das war hart erkämpft, richtig. Und der Wind hat sich in mancher Hinsicht gedreht. Aber ich habe gerade wieder diesen Aufsatz von Adorno gelesen, „Sexualtabus und Recht heute“ von 1963, dieser Text, der für die neue Linke in jenen Jahren so wichtig war.
Ich habe den Text just zu der Zeit, als General Petraeus wegen seiner außerehelichen Affäre durch den Kakao gezogen wurde, gelesen. Adorno wusste schon: In solchen Fällen geht es um Strafaffekte, die da mobilisiert werden – obwohl wir ja eigentlich in einer liberalen Gesellschaft leben könnten.
Abermals: Was hat es mit den Strafaffekten auf sich?
Das ist ganz merkwürdig. Um es an der Homoehe zu illustrieren: Bei der geht es um Bindung, Monogamie und Verantwortung – und das zieht. Adorno erkannte: In einer superliberalen Gesellschaft, in der Sexualität sozusagen zu einem Hygieneartikel geworden ist und in der jeder ein gutes Sexualleben haben muss und darüber quatscht, da ist weder das Perverse noch das Leidenschaftliche erlaubt. Da sind dann plötzlich wieder alle aggressiv dagegen.
Nun klingen Sie, mit Adorno, wieder kulturpessimistisch.
Zumindest bezüglich der weiblichen Selbstbestimmung. Lieber ein lesbisches Paar, das sich liebt und heiratet, als eine Frau, die mit vielen Leuten schläft – so funktioniert die Rechnung. Alle tun so, als ob Sexualität okay wäre, aber in dem Moment, wo es irgendwie nicht ins Schema passt, kommen die Strafaffekte wieder zum Vorschein.
Das könnte in Deutschland auch so kommen. Ein Beispiel: Man kann inzwischen unter Heteros nicht mehr über schwule Sexualität reden, ohne dass daran Anstoß genommen wird.
Meine Erfahrung aus den USA ist, dass Heteros eigentlich sowieso nicht gerne über die Komplexität von Intimität und Sex sprechen. Vielleicht haben sie Angst vor Sex.
Und wie halten Sie es?
Ich finde, dass wir Sex verteidigen sollten, auch wenn es kompliziert ist oder wenn wir ambivalente Gefühle haben. Viele geraten in Panik, wenn es um Sexualität außerhalb einer Paardynamik geht. Man kann damit aber leben. Man muss keine Angst haben.
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