Liao Yiwu gegen Mo Yan: Ein Ruf wird beschädigt
Der Konflikt zwischen dem Dissidenten Liao Yiwu und dem Nobelpreisträger Mo Yan ist hochpolitisch. „Die Zeit“ schlägt sich auf die falsche Seite.
Aliquid semper haeret, etwas bleibt immer hängen. Als Mo Yan im letzten Herbst den Literaturnobelpreis erhielt, gab der bekannte Sinologe Wolfgang Kubin ein Interview, in dem er Zweifel an den chinesischen Kritikern Mo Yans äußerte.
Besonders der damals gerade selbst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrte Liao Yiwu, der den Finger in die politischen Wunden des staatstragenden Schriftstellers gelegt hatte, war ihm ein Dorn im Auge.
Kubin äußerte den Verdacht, Liao erfinde die Unterdrückung in China, die er angeblich aufdecke: „Bei Liao Yiwu müsste man eigentlich genau nachprüfen. Mir sagen Freunde von ihm, die ihn im Gefängnis besucht hatten, dass die Haftbedingungen keineswegs so hart waren wie beschrieben, dass viel von dem, was er hier nicht mehr publizieren konnte, gar keine Dokumentation sei, sondern Fiktion. Der Fall lohnte einer genauen Untersuchung.“
Mit „hier“ meinte Chinaexperte Kubin China, wo er sich immer wieder zu Gastprofessuren aufhält, ein Land, das er seit den frühen siebziger Jahren – also noch aus der Zeit der Kulturrevolution – kennt. Die Ergebnisse dieser Nachprüfung konnte man in der Zeit vom 14. März 2013 nachlesen.
Vom Hörensagen
Angela Köckritz, die Autorin, die den Verdächtigungen Kubins nachgegangen ist, kommt zu einem Freispruch mangels Beweisen; doch etwas bleibt eben immer hängen, wenn man vom „bösem Gerücht“ spricht, das man zu einer „heiklen Frage“ stilisiert hat. Bei seiner Verdächtigung berief sich Kubin auf ein ominöses hearsay, das Angela Köckritz mit dem untauglichen Mittel der Nachfrage bei möglichen Informanten zu überprüfen versucht. Bei ihrer Recherche bleibt sie, wie zu erwarten, in ebendiesem Hörensagen stecken.
Unmerklich ist aber die politische Kritik an der Nobelpreisverleihung auf die Ebene der Glaubwürdigkeit des Kritikers verschoben worden, dessen eigene literarische Produktion in Zweifel gezogen wird. Wolfgang Kubin gibt sich ganz als Literaturexperte, wenn er die Nobilitierung von Mo Yans massengeschmackfähigen Romanen gegenüber elitärer Literatur, die auch noch erlebnisabhängig sein soll, hervorhebt. Dem am traditionellen Realismus orientierten Mo Yan wird von Kubin ein höherer Wahrheitsgehalt zugebilligt als dem Oeuvre Liao Yiwus, das in seiner Besonderheit zu erfassen auch das deutsche Feuilleton seine Schwierigkeiten hat.
Die Nobelpreiskomitees machen Politik. Das ist kein Geheimnis. Wenn es um China geht, bekommen die Gesichter in Regierungs- und Wirtschaftskreisen Norwegens und Schwedens Sorgenfalten. Besonders nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo 2010 gab es Verärgerung in der Kommunistischen Partei Chinas, die zu diplomatischen Spannungen führte. Umso glücklicher äußerte sich die schwedische Handelsministerin nach der Ehrung für den romanschreibenden Kulturfunktionär Mo Yan. Da stört Kritik am Preisträger.
Das Propagandagesamtkunstwerk
Man könnte Liao Yiwus Kritik an Mo Yan als neidmotiviert abtun. Es geht aber nicht um künstlerische Zickigkeiten aus Eifersucht, auch nicht um kleinkarierte chinesische Streitigkeiten. Der Nobelpreis 2012 ehrt nicht einen chinesischen Autor, sondern ein chinesisches Propagandagesamtkunstwerk. Mit Mo Yan wird ein Loyalist geehrt, der im Notfall auf der Seite der Regierung steht.
Die KP übt selbst gerne Kritik an der chinesischen Gesellschaft. Antikorruptionskampagnen, die nicht selten mit der Todesstrafe enden, gehören zur Regierungskunst. Mo Yans kritische Impulse gegen Lokalkorruption werden ermuntert, da sie nicht das Gesamtsystem in Frage stellen. Das hat aber Liao Yiwu getan, als er in seiner Dankesrede zum Friedenspreis 2012 den chinesischen Großmachtanspruch als Quelle des autoritären Übels benannte.
Realpolitiker im Westen halten nichts von der Nationalitätenfrage; aber chinesische Machthaber sehen in ihr eine Existenzbedrohung, weil sie den Untergang der KPdSU, ihrer einst verhassten Konkurrentin, vor Augen haben. Selbstbewusste Tibeter und Uiguren zum Beispiel werden von den chinesischen Kommunisten als Todfeinde angesehen und als Terroristen diffamiert.
Der politische Mensch Liao Yiwu passt den chinesischen Kommunisten nicht. Für die Partei ist es kein Wunder, dass er mit Liu Xiaobo, dem intellektuellen Dissidenten Nummer 1, befreundet ist. Gefährdungen dieser Art sind bei Mo Yan nicht zu befürchten. Wolfgang Kubin weiß das; denn er war schon 1987 Mo Yans Gastgeber in der Bundesrepublik, als noch niemand ahnte, dass Mo Yan zum Vorsitzenden des Schriftstellerverbands aufsteigen würde. Wie hier nur wenige zur Kenntnis nehmen, bedeutet das die Übernahme eines Staatsamtes; das heißt, der Träger muss alle Maßnahmen des Staates mittragen.
Keine Zweifel an der Bedrohung
Liao Yiwu ist seit 1990 in bösester Weise verfolgt worden. Wenn er die Glaubwürdigkeit von Mo infrage stellt, ist das kein kleinlicher Streit unter futterneidischen chinesischen Autoren, die sich mit einer Riposte von Chinaexperte Wolfgang Kubin relativieren lässt. Die Nobelpreisverleihung an Mo war ein schlimmer Affront für alle Chinesen, die nach dem Tian’anmen-Massaker um ihr Leben und ihre physische Integrität fürchten mussten. An dieser Bedrohung kann es keinen Zweifel geben.
Wenn Wolfgang Kubin das Erlittene dummdreist infrage stellt, so kann dies nichts anderes als Empörung bei denen hervorrufen, die mit der chinesischen Unterdrückungspraxis Erfahrung haben.
Die Existenz eines Archipel Gulag chinesischer Art kann niemand leugnen, der irgendwann einmal mit China in den letzten vierzig Jahren in Berührung gekommen ist. Diese halb verborgene Welt hat Liao Yiwu auf überzeugende Art sichtbar gemacht; deswegen wurden seine Schriften verboten, und er musste das Land verlassen.
Mit der Nachfrage nach Liao Yiwus Lebensgeschichte hat Wolfgang Kubin nicht nur den Zeitzeugen Liao, sondern auch den Künstler diffamiert. Man verkennt Liaos Kunst, wenn man sie als autobiografischen Lebensbericht abtut. Nach dem vierjährigen Gefängnisaufenthalt zog er arbeits- und stellungslos durch Sichuan, lebte von Kneipenmusik und führte unendlich viele Gespräche mit einfachen Leuten, die nicht in den Lebenswelten der neuen Mittelschicht leben. Liao entwickelte eine Gesprächs- und Darstellungstechnik, die jenseits der Reportageliteratur eines Studs Terkel angelegt ist, ihr aber an Intensität nicht nachsteht.
Poetische Qualität
Auf diese Weise entsteht eine Untergrundsoziologie des nachrevolutionären China, die poetische Qualitäten aufweist. Diese Kunst, wie sie in Liao Yiwus „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ nachlesbar ist, hat nur mittelbar etwas mit Liaos Gefängnisaufenthalt zu tun; aber unmittelbar mit seiner Fähigkeit, in der verwirrenden Welt des modernen China Erfahrungswelten zu restituieren, die nicht nur Touristen, sondern auch den meisten Chinesen unbekannt sind.
Die chinesische Propaganda, die einen chinesischen Traum von Stärke und Wohlstand in die Welt posaunt, baut auf eine gesellschaftliche Amnesie, die Terror und Unterdrückung in eine Vergangenheit verlegt, von der keiner mehr hören will.
Kubin hat in einem viel umfassenderen Sinne recht, als er denkt, wenn er Angela Köckritz gegenüber behauptet: „Es ist vielleicht das China Liao Yiwus, furchtbar, er tut mir leid. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass seine Schilderungen im Kern zutreffen. Doch es ist nicht mein China und auch nicht das meiner Studenten.“ Selten ist selektive Wahrnehmung so selbstbewusst mit der Wahrheit verwechselt worden.
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