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Leseforschung Gibt es einen Zusammenhang zwischen Buchinhalt und Jahreszeit?„Jeder hat so seine Texte“

Foto: privat
Jost Schneider

Ist Professor für Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum.Er schrieb unter anderem „Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen ­Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland“ (2004).

Interview Doris Akrap

taz.am wochenende: Was sagt die Wissenschaft über klassische Sommerlektüren?

Jost Schneider: Ein Zusammenhang zwischen Inhalt und Jahreszeit ist nicht bekannt. Vielleicht mal abgesehen von Weihnachtsgeschichten, die werden eher nicht am Strand gelesen. Es gibt Literatur, die eine sommerliche Stimmung transportieren, aber die wird auch gern mal im Winter am Kamin gelesen. Klassische Urlaubslektüren gibt es aber durchaus. Das sind dicke Bücher, für die man sonst keine Zeit hat, wie beispielsweise Thomas Manns Josephsromane oder Tolkiens Fantasygeschichten. Es sind längere oder anspruchsvollere Texte, für die man Ruhe und Konzentration benötigt.

Das Kapital. Band I–III“ von Karl Marx?

Sicher ein extremes Beispiel. Aber klar, jeder hat so seine Texte, von denen er meint, dass man die unbedingt gelesen haben müsste. Und das nimmt man sich eben gerne für den Urlaub vor.

Untersucht die Leseforschung auch, ob unter der Sonne anders gelesen wird als unter der Leselampe?

Ja. Der Germanist Erich Schön hat in seiner Studie „Der Verlust der Sinnlichkeit“ beschrieben, dass es bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts üblicher war, im Freien oder in Gesellschaft, also gemeinsam zu lesen, sich gegenseitig vorzulesen. Das war ein sinnliches Erlebnis, das man inszenieren konnte, mit Verköstigung und passender Landschaft drum herum. Natürlich galt das nur für eine bestimmte Schicht. Der Feldarbeiter war zu der Zeit Analphabet. Heute liegen Leute allein im Park und lesen. Diese Veränderung beginnt mit der Verschulung, also der Alphabetisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Damals waren nur etwa 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung regelmäßige Leser. Um 1900 aber herrschte bereits eine fast vollständige Alphabetisierung.

Liest man anders, wenn man allein liest, als in der Gruppe?

Die intellektuelle Durchdringung und das Nachempfinden des Inhalts wird beim Alleinlesen intensiver. Und auch die Literatur reagiert auf die Alphabetisierung: Ab dem 19. Jahrhundert werden Texte mit sehr hohem Immersionspotenzial verfasst, also Unterhaltungslektüre mit hoher Identifikations­dichte, die den Leser in den Bann schlägt. Es geht nicht mehr nur um Religion oder Staatsaktionen, sondern um Alltagskonflikte, lebensweltliche Themen.

Wie sehr bildet Lesen wirklich?

Sehr. Nicht nur kognitiv, sondern auch die Gefühle. Die Unterhaltungsliteratur hat erheblich zur gesamtgesellschaftlichen Zivilisierung beigetragen. Themen wie Kindererziehung, Ernährung, Verhalten wurden dort vermittelt. Lesen war eine Schlüsselqualifikation für die Entwicklung der deutschen Dienstleistungsgesellschaft.

Hat Lesen heute noch den gleichen Stellenwert?

Unbedingt, wenn nicht einen höheren. Es sind durch die Digitalisierung stilistische Register des Lesens dazugekommen, die man beherrschen muss, neue Formen der Lektüre und des Schreibens, häufig dialogische. Es ist falsch, das nur kritisch zu sehen im Sinne eines Verlusts.

Ist Herkunft in Deutschland immer noch entscheidend für das, was man sich in seinem Leben so an Literatur antut?

Trotz hoher sozialer Mobilität ist das leider immer noch sehr stark so. Da müsste lesedidaktisch in der Schule mehr passieren. Freier Zugang zu Bildung ist nicht alles. Klar kann sich jeder alles ausleihen oder kaufen. Aber wer wenige Bildungsvoraussetzungen mitbringt, für den ist ein Hölderlin witzlos. Wenn man nicht versteht, wovon die Rede ist, hört man auf zu lesen.

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