Leipziger Literaturtage: Konkurrierende Gedächtnisse
Die Erinnerungen an Osteuropa sind umkämpft. Wie kann Literatur trösten, wenn Geschichte zur Waffe wird? Darüber wurde bei den Leipziger Literaturtagen diskutiert.

Auch nach 35 Jahren reißen die Erzählungen über die unterschiedlichen Erfahrungen in Ost- und Westdeutschland in der Literatur nicht ab. Doch läuft man dabei hierzulande auch Gefahr, das Erleben nach dem Mauerfall jenseits der deutsch-deutschen Grenzen aus dem Blick zu verlieren.
Immerhin ging mit ihm auch der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion einher. Und damit auch eines Vielvölkerstaates, dessen kurzzeitige Aufbruchstimmung schnell ein jähes Ende fand – allerspätestens mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
Bei der fünften Leipziger Debatte im Literaturhaus Leipzig kamen nun fünf Menschen ins Gespräch, die als Übersetzerinnen, Schriftstellerinnen und Wissenschaftlerinnen ihre ganz eigenen Perspektiven auf diesen osteuropäischen Erfahrungsraum mitbringen. Die Devise von Ingo Schulze, der die Veranstaltung als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ins Rollen gebracht hat: „Sprechen statt schreien, zuhören, statt die Ohren zu verschließen, zusammentreffen, statt den Dialog zu verweigern.“
Sprechen statt schreien
Die als Debatte ausgewiesene Veranstaltung kommt eher als Fragerunde daher, die von den Übersetzerinnen Olga Martynova und Margherita Carbonaro geleitet wird. So gleichen die Beiträge der Podiumsgäste eher kleinen Inputs, was der Runde aber in Anbetracht der vielen Perspektiven und Hintergründe, die es zu verstehen gilt, keinen Abbruch tut. Es ist eine ruhige, eine nachdenkliche, aber auch eine inspirierende Runde, die hier zu Wort kommt und sich zunächst der eigenen Arbeit im Zeichen des russischen Angriffskriegs widmet.
Denn der sorgt auch in Polen für reale Ängste. Davon bleibt die Arbeit des polnischen Lyrikers Tadeusz Dąbrowski nicht unbeeinflusst. Seine Arbeit begreift er dennoch als unpolitisch, besser „überpolitisch“. Gedichte seien schließlich Orte, an denen sich die Kleinen und die Großen, die Armen und die Reichen, die Rechten und die Linken die Hände reichen.
Der Schriftstellerin Marica Bodrožić hingegen verschlägt der derzeitige Anblick der Welt samt der permanenten „Umkehrungen von Wahrheit und Lüge und dem Verlust eines Liebesblicks“ die Sprache. Was einst bei der Belagerung von Sarajevo passierte, setzte sich auch in Mariupol fort. Orientierung in diesen Zeiten bieten Bodrožić die Gedächtnisse der Menschen, denn sie sind für die Autorin „ein Ort, der die Zeiten miteinander verbindet“.
Doch wie steht es um diejenigen, deren Arbeit nicht zwangsläufig im Schreiben, sondern im Erforschen der Literatur besteht? Wie sieht die Kultur- und Literaturwissenschaft über den ostslawischen Kulturraum in Zeiten aus, in denen die Deutungshoheit eng an nationale Grenzen und Identitäten geknüpft ist?
Die Unfreiheit der Wissenschaft
Slawistin Tatjana Hofmann sieht dies als eine Herausforderung. Ihr Traum wäre es, mehr mit Kolleg*innen aus anderen Ländern zusammenzuarbeiten. Doch was das anbelangt, „sind die Strukturen sehr einschränkend, ist die Wissenschaft eben doch nicht so frei“. Allein schon, weil man viel Zeit mit dem Schreiben von Anträgen verbrächte.
Vielleicht auch deshalb hat Hofmann angefangen, die Form des wissenschaftlichen Aufsatzes ein wenig aufzulockern und Essays, beispielsweise über die Halbinsel Krim, zu schreiben – einem nicht nur politisch, sondern auch kulturell umkämpften Gebiet.
Doch nicht nur die Krim, nicht nur die Ukraine, ganz Osteuropa ist zu einem Raum konkurrierender Gedächtnisse geworden, wie Übersetzerin Margherita Carbonaro feststellt. Kann man deshalb auch schon konkrete Veränderungen in Sprache und Landschaften wahrnehmen?
Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Ievgeniia Voloshchuk, die zu Transkulturalität forscht, hält das für verfrüht. Selbst die besten Bücher über den Ersten Weltkrieg seien zeitlich viel später entstanden: „Es braucht zuerst Abstand.“ Wie schwer die Veränderungen im Gedächtnis der Menschen auch mit Blick auf die Landschaften sind, zeigt laut Voloshchuk die Region Galizien.
Bis heute gelte sie als Wiege des ukrainischen Nationalismus, dies überdecke aber die historische Multikulturalität der Region. Denn Galizien war bis zum Zweiten Weltkrieg ein multiethnischer Raum, in dem Ukrainer, Polen, Juden und Deutsche lebten und wirkten.
Was kann Literatur in diesen Zeiten also ausrichten? Das Schöne an ihr sei „das gemeinsame Gedächtnis“, dieses Gedächtnis der Emotionen, wie die russische Übersetzerin Tajana Baskakova es nennt. Mit der Literatur können man den Dingen entgegenwirken, den Menschen aber auch lehren, andere Menschen zu verstehen.
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