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Lehrermangel in NiedersachsenRechenschieber statt Algebra

Zum neuen Schuljahr werden viele GymnasiallehrerInnen in Niedersachsen an Grundschulen abberufen. Politik und Gewerkschaft suchen Schuldige

Grundschülern ist es wahrscheinlich egal, von wem sie unterrichtet werden – Hauptsache Spaß Foto: Jonas Güttler/dpa

Komplizierte Algebra im Mathe-Leistungskurs in der Oberstufe vermitteln oder mit siebenjährigen Schulanfängern erste Grundsteine in der Welt der Zahlen legen. Das ist ein Unterschied. Und genau um den geht es jetzt für niedersächsische GymnasiallehrerInnen. Sie werden wegen des Lehrermangels an Grundschulen kurzfristig abberufen. Zur genauen Zahl der abberufenen Pädagogen wollte das niedersächsische Kultusministerium auf taz-Anfrage keine Angaben machen.

Der Grundschullehrermangel insbesondere in ländlichen Regionen ist laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Niedersachsen (GEW) ein großes Problem, dass sich schon vor mehr als zehn Jahren abzeichnete. „Die Landesregierung hat derzeit kein anderes Instrument als die Abordnung der Lehrkräfte von den Gymnasien, um den Mangel an Grundschulen auszugleichen“, sagt Eberhard Brandt, GEW-Vorsitzender in Niedersachsen. „An Gymnasien werden nur Lehrer abgezogen, wenn diese überproportional versorgt sind.“ In erster Linie würden bereits erfahrene Lehrer angefordert.

Neben den niedersächsischen Gymnasien sind auch Gesamtschulen von den Abberufungen betroffen. Harsche Kritik kommt von Seiten des Philologenverbandes. „Große Unsicherheit und großer Ärger“, mit diesen Worten beschreibt Horst Audritz, Vorsitzender des niedersächsischen Philologenverbandes, die Reaktionen vieler LehrerInnen, die kurzfristig per Mail über ihre Abberufung informiert wurden. Insbesondere das Fehlen eines vorhergehenden Gesprächs habe viele Betroffene gestört. Die LehrerInnen fühlen sich laut Audritz wie auf einem „Verschiebebahnhof“. GEW-Funktionär Brandt kann nachvollziehen, dass die meisten PädagogInnen etwas geschockt seien. Eine Alternative für das Kultusministerium und die Schulbehörde sieht er allerdings derzeit nicht.

Das niedersächsische Kultusministerium erklärt die Maßnahmen ebenfalls für dringend notwendig, da man „auf eine ausgewogene Unterrichtsversorgung“ an den verschiedenen Schulformen achten müsse. Auf taz-Anfrage verweist das Kultusministerium darauf, dass beispielsweise an einer Gesamtschule der Pflichtunterricht bei einem Versorgungswert von gut 70 Prozent gewährleistet sei. Die abgebenden Schulen können laut Auskunft des Ministeriums zusätzliche Stellen für Abordnungen erhalten.

Heftige Kritik an der Bildungspolitik der rot-grünen Landesregierung kommt vom schulpolitischen Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Kai Seefried: „Die aktuellen Pro­bleme bei der Unterrichtsversorgung hat sich Kultusministerin Frauke Heiligenstadt selbst zuzuschreiben.“ Er bemängelt, dass allein zum 1. Februar dieses Jahres 340 ausgebildete Gymnasiallehrkräfte nicht eingestellt wurden. Die Hauptleittragenden des „Aktionsplans“ sind für den CDU-Politiker SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern.

Auch in der FDP herrscht Unverständnis: „Die Chaospolitik der Kultusministerin erreicht mit Schuljahresbeginn abermals eine neue Qualität“, sagt der FDP-Landtagsabgeordnete Björn Försterling. Auf eventuelle Versäumnisse während ihrer Regierungszeit gehen die Oppositionsparteien nicht ein.

„Die ehemalige CDU-Landesregierung hat damals in der Schulpolitik total versagt und uns die Suppe eingebrockt, die wir jetzt auslöffeln müssen“, sagt Gewerkschafter Eberhard Brandt. Als wesentliche Ursache hat die Gewerkschaft eine fehlerhafte Lehrerausbildung an Universitäten ausgemacht. Rund 40 Prozent der Lehramtsstudierenden brechen ihr Studium wieder ab. Es gebe zu wenige AbsolventInnen, um die freien Stellen zu besetzen.

„Um alle Lehrerstellen in Niedersachsen auszufüllen, müssen derzeit jährlich rund 40 Prozent junge PädagogInnen aus anderen Bundesländern angeworben werden“, bemängelt Brandt. Einer der Hauptkritikpunkte an der akademischen Lehrerausbildung sind vor allem die fehlende individuelle Betreuung der Studierenden sowie die befristeten Arbeitsverträge der Uni-Dozenten. Die Lehramtsausbildung müsse attraktiver gemacht werden.

Durchaus auch positive Aspekte findet Mike Finke, Vorsitzender des Landeselternrates Niedersachsen: „Junge PädagogInnen sind ja generell schwer für die ländlichen Regionen zu begeistern, und mit einem Austausch könnten durchaus auch mal eingefahrene Strukturen überwunden werden.“ Ob alle GymnasiallehrerInnen auch in der täglichen Praxis empathisch und pädagogisch in der Lage sind, Grundschulkinder zu unterrichten, vermag er aus Elternsicht nicht zu beurteilen.

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1 Kommentar

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  • Wer sich für ein Gymnasiallehramt entschieden hat, hat sich bewusst gegen Grundschule entschieden. Sicherlich aus Gründen - die mögen finanziell sein, aber zu nicht geringem Teil ist sicher auch die Schülerschaft ein Punkt. Wir hatten doch sicher alle Lehrer, die spürbar nur mit Jugendlichen klarkamen. Einer meiner Lehrer vermied sogar die Sek 1, wo es nur ging, und widmete sich soweit wie möglich der Oberstufe. In der Sek 1 war er eine Katastrophe, er hatte Null Einfühlungsvermögen für Pubertierende und nach wenigen Wochen hatte die gesamte Klasse Angst vor ihm. In der Oberstufe hatte ich ihn dann wieder, da war er ein Top-Lehrer... Und so jemand soll nun Erstklässler unterrichten?

    Nur weil die Lehrer natürlich fachlich den Stoff unterrichten können, heißt das nicht, dass sie auch mit den Kindern umgehen können. Da hätte ja lieber noch engagierte Laien-Lehrer, die gerne mit Kindern arbeiten.