Leere Zoos in Zeiten von Corona: Tierisch stressbefreit
Nicht nur die Menschen hat Corona im Griff – auch die Tiere bemerken, dass etwas nicht stimmt. Zu Besuch bei Primaten, Pandas und Tüpfelhyänen.
Kalle ist voll langweilig. Sonniger Nachmittag und niemand da. Nichts los auf dem Ku'damm, niemand an der Gedächtniskirche. KaDeWe, Europa-Center, Kino, Restaurants und Cafés geschlossen – und der Zoo natürlich auch, seit Tagen schon. Kalle hockt auf dem Boden, die Arme auf seinen Knien abgelegt, schaut durch das riesige Fenster und popelt gedankenverloren in der Nase.
Hinter der Scheibe müsste um diese Zeit Hochbetrieb herrschen, eigentlich. Unzählige Besucher, die sich um Kopf und Kragen fotografieren, Kinder, die sich die Nasen an den Scheiben plattdrücken, Eltern, die ihre Kinder von ebendiesen Scheiben wegzerren, und der Mann, der Kalle und die anderen Schimpansen jeden Tag im Affenhaus besucht, und sogar anruft und sich entschuldigt, wenn er mal nicht kann. Aber jetzt: absolute Funkstille. Der Zoo Berlin und der Tierpark hatten schon Tage vor den Ausgangsbeschränkungen dicht gemacht.
Mittlerweile wäre es ohnehin nicht mehr möglich, die Leute auf Abstand zu halten, spätestens dann nicht mehr, wenn sie vor dem Pandahaus Schlange stünden und sich dicht an dicht um den Schauraum drängten, um einen Blick auf Meng Xiang und Meng Yuan, alias Pit und Paule zu erhaschen. Also sieht es im Zoo so aus, wie es vor den Öffnungszeiten immer aussieht: menschenleer. Und nun könnte man meinen, die Tiere bekommen von dem ganzen Irrsinn da draußen sowieso nichts mit.
Aber von wegen. Bei manchen Tieren sei es im Normalfall so, als würde um 9 Uhr ein Schalter umgelegt, erzählt Pressesprecherin Philine Hachmeister beim Spaziergang durch den Geisterzoo. Morgens würden sie noch jeden aufmerksam beobachten, der am Gehege vorbeigehe. Doch sobald das Publikum auf das Gelände strömt, sinke das Interesse an den Menschen.
Kalles Schuhfetisch
Jetzt ist es 24/7 vor Öffnungszeit um 9. Wir werden neugierig bis skeptisch beäugt. Ganz besonders von den Primaten. Die Menschenaffen kennen ihre Gäste, interagieren mit ihnen, lassen sich von ihnen unterhalten und unterhalten sie zurück. Schimpansenchef Kalle zum Beispiel begeistert sich für Schuhe. Oft lockt er die Leute etwas näher an die Scheibe, um die Stiefel und Sneaker und Sandalen besser studieren zu können.
Nun klopft Kalle gegen das Glas, erst sanft mit dem Fingerknöchel, dann etwas bestimmter mit dem ganzen Handrücken, bis wir unsere Füße endlich durchs Geländer in seine Richtung strecken. Gebannt staunt Kalle durch das beschmierte Schaufenster.
Die Scheiben muss das Zoopersonal zurzeit nicht mehr so häufig putzen. Kommt ja keiner, der fürs Gucken zahlt. Auch die Showfütterungen und Kommentierungen fallen für die Pflegerinnen und Pfleger bis auf weiteres flach. Dafür haben sie nun etwas mehr Zeit für die Tiere. Gemistet und gefüttert werden muss nach wie vor. Das Personal arbeitet zurzeit in zwei Schichten. So würde nicht das gesamte Team ausfallen, wenn jemand positiv auf das Coronavirus getestet wird und alle in Quarantäne müssen. Homeoffice ist hier keine Option.
Also wird mit Vorsicht und Abstand gearbeitet, so gut das eben möglich ist. Vor allem im Affenhaus, da noch nicht so richtig klar ist, ob und wie sich unsere nächsten Verwandten ebenfalls Corona einfangen können. Ein bisschen mehr Körperkontakt braucht es im Streichelzoo. Die Schafe und Ziegen sind verwirrt. Niemand steckt ihnen ein paar extra Grasbüschel zu, niemand wuschelt ihnen durch die Wolle. Niemand außer den Angestellten jedenfalls, die sich nun mit zusätzlichen Streicheleinheiten und Bonusfutter um die Tiere kümmern.
Friedlicher Brunch an der Joghurtbar
Die Schimpansen sind auf das Außengelände umgezogen. Dort hat Pfleger Ruben Gralki ein kleines Entertainmentpaket vorbereitet: In die vorgebohrten Löcher eines Felsbrockens hat er Joghurt gefüllt. Den löffeln und kratzen sich die Affen jetzt mit Hilfe von Stöckchen und Halmen heraus. Für gewöhnlich streitet sich die Gruppe um das beste Angelinstrument. Aber diesmal hat Schimpansin Soko gleich jedem ein passendes Stöckchen mitgebracht. Friedlicher Brunch an der Joghurtbar.
Im Affenstall kehrt Ruhe ein. Auch in anderen Gehegen sinkt der Stresspegel. Manche Tiere reagieren anders als sonst. Sie entdecken neue Lieblingsplätze, wagen sich teils aus dem Backstagebereich nach vorn an die Kanten ihrer Bühne. Wie auch die größten Stars des Zoos, Pit und Paule. Über ein halbes Jahr sind die beiden jetzt schon alt. Die Pandajungen hängen ganz gern im Showroom ab, anstatt hinten in ihrem Versteck, wo sie mit Mama Meng Meng zunächst die Tage verschliefen. Paule döst manchmal direkt an der Fensterfront oder auf dem Gerüst aus Baum und Bambus – bevor es Pit zu langweilig wird und er seinen Bruder von der Astgabel schubst.
Etwas entspannter geht es in diesen seltsamen Tagen auch im Tierpark zu. Im Vergleich zum Zoo müssen die Tiere draußen in Friedrichsfelde ohnehin nicht den ganz großen Ansturm über sich ergehen lassen, sofern nicht gerade ein Babytierhype viral geht. Doch wenn so richtig gar nichts los ist, schenken die Tiere der Begegnung mit Menschen etwas mehr Aufmerksamkeit. Die Moschusochsen, Klunkerkraniche und Alligatoren verfolgen Zoovolontär Nicolas Brüning auf Schritt und Tritt. Die Zebras, Elefanten und Tüpfelhyänen unterbrechen sogar ihre wichtigen Tiergeschäfte, um ein paar Schritte näher an die Gräben heranzutreten und zu gucken.
Wir radeln nebeneinander die Wege entlang und sprechen über tierisches und menschliches Verhalten, über die Bedeutung der Zoos und ob man den Leuten heutzutage noch Wissen über ein paar Pappschilder am Zaun vermitteln kann, bis wir schließlich bei den Eisbären haltmachen. Auf den Steinen sonnen sich Tonja und Hertha, Kurzzeitstar vor Pandazeiten, die – Kinder, wie die Zeit vergeht! – schon fast so groß geworden ist wie ihre Mutter.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Und ein paar Meter weiter die Sibirischen Tiger, Kurzzeitstars vor Eisbärzeiten, die schon lange nicht mehr nach kindchenschematischer Babymiez aussehen. Im Alfred-Brehm-Haus direkt daneben wird gebaut. Hier entsteht eine Regenwaldlandschaft, die in Kürze eröffnet werden sollte. Ohne Zuschauer wird sich die Sache nun auf unbestimmte Zeit verzögern.
Die Arbeiter im Zoo nutzen derweil die publikumsfreie Zeit. Die Häuser werden grundgereinigt, die Außenbereiche gecheckt, neue Gehege werden gebaut, in manchen Becken und Aquarien wird das Wasser ausgetauscht. An sich eine ganz entspannende Abwechslung im Arbeitsalltag, räumt einer der Pfleger ein. Wenn man doch nur sicher wüsste, dass die Besucher bald zurück kommen und wieder Geld in die Zookasse bringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt