Lebenswertes in Mecklenburg-Vorpommern: Mit dem Bulli durch das Kulturland

Kultur ist nicht gerade ein Aushängeschild Mecklenburg-Vorpommerns. Wenn man sich durch das Bundesland bewegt, entsteht ein anderer Eindruck.

Liedermacherin Barbara Thalheim und Schriftsteller Ingo Schulze vor einem VW-Bulli

Liedermacherin Barbara Thalheim und Schriftsteller Ingo Schulze vor dem VW-T2 Foto: Frank Hormann/nordlicht

Ein grauer, wolkenverhangener sogenannter Sonntag in Parchim in Mecklenburg-Vorpommern, Ende August. Vor dem Rathaus steht ein grauweißer VW-Bulli T2b, Baujahr 1977, einst ein Hippie-Traum. An ihm prangt ein großer Aufkleber: „Wählen gehen!“. Davor ein Tisch mit Flyern und Broschüren, daneben Wahl-Pavillons von Grünen, SPD und Linken.

Mathias Greffrath ist gerade 13 Tage mit diesem Bulli in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs. Jeden Tag eine Station, jeden Tag eine Veranstaltung mit Schriftsteller:innen, Musiker:innen, Künst­le­r:in­nen an Orten namens Tribsees, Ahrenshoop und jetzt Parchim. Greffrath, Soziologe und Journalist, will für den Wert der Demokratie werben; dafür, überhaupt eine Wahl zu haben. „Es gibt viele Menschen, die haben ziemlich konkrete Vorstellungen davon, wie eine lebenswertere Welt aussehen könnte“, sagt er zum Sinn und Zweck der Tour. „Doch sie engagieren sich nicht, weil sie die langweiligen Aktivitäten und die kleinen Schritte scheuen. Diese Leute zu erreichen, darum geht es.“

In Parchim stehen ein paar Teenies, ältere Paare, eine muslimische Familie auf dem Schuhmarkt. Insgesamt vielleicht 40 Leute. Überschaubar. Stühle bleiben leer. Die Liedermacherin und Ost-Legende Barbara Thalheim steht unter einem Pavillon, die Gitarre in der Hand, sie erzählt Anekdoten, singt Songs wie „So leben wir in der Zeit der Stagnation“ und „Liebes Deutschland“. Der Berliner Verleger Christoph Links liest einen Text, der von den Wahlplakaten der unmittelbaren Nachwendezeit handelt.

Es sind die Mühen der Ebene, die er und sein kleines Demokratieteam da beschreiten. Die Reise ist angelehnt an die Tour quer durch die BRD, die Günter Grass 1969 in einem VW-Bulli unternahm, um für Willy Brandt zu werben. Initiiert hat die Tour das Koeppenhaus Greifswald und die Projektkoordinatorin Kati Mattutat, die Wolfgang-Koeppen-Stiftung und das Bündnis „unteilbar“, das am 18. September zur Großdemo in Rostock aufruft. Greffrath versteht die Kulturbulli-Aktion auch als Anregung: „Es kommt zum Beispiel vor, dass sich der örtliche Gesangsverein mit einer Tourismusinitiative vernetzt“, sagt der 76-Jährige, „es entsteht eine Art von stadtinterner kleiner Öffentlichkeit durch diesen Impuls von außen.“

Der Kultur-Bulli hält noch am 10.9. in Ludwigslust (16.30 Uhr, Fußgängerzone Lindencenter/Buchladen, mit Autor Steffen Dobbert), am 11.9. in Wismar (12 Uhr, Marktplatz, mit Autor Jochen Schmidt) und am 11.9. in Lübeck (18 Uhr, Autor Feridun Zaimoglu)

Als Kulturland gilt Mecklenburg-Vorpommern dabei eigentlich nicht. Darüber kann man nur erstaunt sein, wenn man sich ein bisschen durch dieses Land bewegt. Denn in MV gehen Kulturinitiativen und zivilgesellschaftliches Engagament oft Hand in Hand, MV hat Künstler und Acts wie Feine Sahne Fischfilet und Marteria, MV hat Pop-Festivals wie die Fusion, das 3000 Grad, das Pangea oder das Immergut Festival. Es bewegt sich was, in der Coronakrise hat sich mit dem “Kulturwerk MV“ ein Verband für Clubs und Livespielstätten gegründet. Doch wenn etwas über Landesgrenzen hinausstrahlt, sind es meist nur die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Kultur und Popkultur haben vielerorts einen schweren Stand, sind chronisch unterfinanziert.

Wenige Meter vom Schuhmarkt entfernt sitzt Thomas Ott-Albrecht in seinem Büro im Jungen Staatstheater Parchim. Der 60-Jährige ist Intendant des Theaters, das Haus befindet sich noch in einem baufälligen ehemaligen Hotel. Der große Saal wurde 2014 wegen Einsturzgefahr geschlossen; als Ott-Albrecht nun durch den dunklen Raum hindurchführt, tropft es an einer Stelle von der Decke. Das ganze Theater stand oft kurz vor der Schließung. Auf die Frage, wie man einen solch rostigen Tanker navigiert, antwortet er: „Ich bin im Osten groß geworden und liebe daher das Mittel der intelligenten Anarchie.“

Selina Wippler und Victoria Teickner stehen in einer Tür, daneben steht in blauer Schrift POPKW

Selina Wippler und Victoria Teickner von PopKW Foto: privat

Thomas Ott-Albrecht, Junges Staatstheater Parchim

„Ich bin im Osten groß geworden und liebe daher das Mittel der intelligenten Anarchie“

In Parchim geschieht nun etwas Seltenes: Hier wird in Kultur investiert. In einer ehemaligen Getreidemühle entsteht die „Kulturmühle“, das größte Kulturprojekt des Landkreises, für insgesamt 39,8 Millionen Euro. Dort zieht unter anderem das Jugendtheater ein, im Dezember 2022 soll die Eröffnung sein. Für das Junge Staatstheater (das ein Teil des Mecklenburgischen Staatstheaters ist) ist nun sogar eine Erhöhung des jährlichen Budgets von 2,4 Prozent vorgesehen, zuletzt erhielt es 1,67 Millionen Euro jährlich vom Landkreis, dem Land und der Kommune.

„Die Verantwortlichen in der Politik haben erkannt, wie wichtig das Theater für die Entwicklung einer Region sein kann“, sagt Ott-Albrecht. „Gerade im ländlichen Raum ist Kultur essenziell. Wir sind ein Bildungsort, wir regen junge Menschen zum Denken und Selberdenken an, zur Auseinandersetzung mit der Welt“, sagt er. Was das Theater für Einzelbiografien bedeutet, weiß er aus eigener Erfahrung: „Ich denke oft an den Schauspieler Steffen Siegmund, der heute im Thalia in Hamburg spielt. Er hat bei uns im Theaterjugendclub mitgemacht. Er kam aus sehr schwierigen Verhältnissen. Das Theater war seine Zuflucht, sein Ausweg.“

Rostock, Kröpeliner-Tor-Vorstadt (KTV). Das Viertel ist so etwas wie das Kreuzberg von MV. Der subkulturelle Anstrich ist nicht zu übersehen, überall hängen Plakate, die für die Festivals „Illustrade“ und „Pop Off Shore“ werben (beide am zweiten Septemberwochenende). Im Kultur- und Medienzentrum Frieda 23 haben Selina Wippler und Victoria Teickner an einem Konferenztisch Platz genommen. Die beiden arbeiten für die Landesinitiative für Popularkultur und Kreativwirtschaft, kurz: PopKW.

Wippler erklärt, wie bedeutend die Sparte Pop für die Regionalentwicklung sei. „Pop- und Clubkultur sind ein Wirtschaftsfaktor, sie sind aber in erster Linie ein sozialer Faktor. Wir schaffen es zum Beispiel, benachteiligte Kinder und Jugendliche mit popmusikalischen Angeboten erreichen. Wir sorgen dafür, dass ihnen Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil wird.“.

Das gelingt etwa mit dem Projekt PopToGo. Jugendliche können sich im Songwriting, Rappen oder DJing ausprobieren, sie arbeiten dabei zum Beispiel mit dem Rostocker Rapper Ostmaul oder dem Geiger und Musiker Robert Beckmann (ehemals The Inchtabokatables) zusammen. „Wir haben in Rostock ein großes Problem mit Segregation“, sagt Wippler, „deshalb wollen wir mit solchen Angeboten vor allem auch Jugendliche aus den Randbezirken erreichen.“

Pop gegen Nazis

Angefangen hat die PopKW als Landesarbeitsgemeinschaft Rock und Pop 1999; damals vor allem, weil man der rechtsextremen Bandszene etwas entgegensetzen wollte. Das feste Budget lag 2019 bei jährlich 67.500 Euro von der Stadt Rostock und Land. Das reicht für die Personalkosten, für die Projekte müssen weitere Mittel erschlossen werden. „Es ist an der Zeit, dass Popkultur als Kultur anerkannt wird“, meint Teickner, „viel zu viele halten Pop nur für ein Jugendphänomen.“

Dass Handlungsbedarf besteht, hat das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur erkannt: 2020 hat man neue „Kulturpolitische Leitlinien“ entwickelt. Eine Empfehlung: „Entwicklung einer Marke ‚Kulturland MV‘“. Um das zu erreichen, brauche es auch eine Kehrtwende in der Marketingstrategie des Landes, meint Wippler.

Wie arg der Nachholbedarf ist, zeigt sich an mancher Stelle im Haushaltsplan: Zur „Förderung der Kreativwirtschaft“ stehen von Seiten des Wirtschaftsministeriums ganze 100.000 Euro jährlich zur Verfügung. Für ein ganzes Bundesland, wohlgemerkt. Daneben gibt es natürlich noch den Etat des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, der sich in den vergangenen Jahren leicht erhöht hat (1,74 Milliarden) und bei dem Etliches für die Kultur abfällt.

Anne Blaudzun sorgt sich vor allem um die Kulturetats nach der Krise. Die 45-Jährige, Markenzeichen Hut und Totenkopf-Ringe an beiden Händen, ist in der Rostocker Subkultur fest verankert; sie ist seit zwanzig Jahren Redakteurin des Literaturmagazins Risse. In dem Heft publizieren ausschließlich Au­to­r:in­nen und Schrift­stel­le­r:in­nen aus Mecklenburg-Vorpommern, seit 1998 gibt es das vom Land und von der Stadt Rostock geförderte Magazin. „Alle Haushalte werden jetzt sparen müssen. Dabei stand vielen Kulturprojekten doch schon vorher das Wasser bis zum Hals“, sagt Blaudzun bei einem Gespräch in einem Café in der KTV.

Anne Blaudzun mit Hut bei einer Lesung

Anne Blaudzun Foto: Risse

„Kultur ist nicht umsonst zu haben.“

Wie bei so vielen Kulturprojekten würde auch Risse ohne Selbstausbeutung nicht funktionieren. Zwei Themenhefte werden pro Jahr veröffentlicht, Autorenförderung wird dabei groß geschrieben, jedes Mal war bislang ein Debütant oder eine Debütantin dabei. „Wir achten besonders darauf, dass die Autorinnen und Autoren honoriert werden; auch, wenn es in der Höhe nur symbolische Beträge sein können. Wir wollen damit auch zeigen: Kultur ist nicht umsonst zu haben.“

Die Zeitschrift schafft ihres Erachtens auch Ausgleich für eine sonst nicht gerade blühende Literaturlandschaft: „Es gibt einfach keine gute Infrastruktur für Literatur in Mecklenburg-Vorpommern. Die Verlage im Land kann man an einer Hand abzählen. Umso erfreulicher ist es, wenn sich neue Verlage etablieren wie zum Beispiel Katapult in Greifswald.“

Am ersten Sonntag im September – einem, der seinem Namen mehr Ehre macht -, ist auch der grauweiße VW-Bulli in Rostock-Dierckow beim Mühlenfest angekommen. Tag 8 der Kultur-Tour, Barbara Thalheim ist wieder dabei, Schriftsteller Ingo Schulze liest aus seinem jüngsten Roman „Die rechtschaffenen Mörder“. Auf dem Platz herrscht Dorffestatmosphäre, die Leute sitzen auf Bierbänken bei Bratwurst oder Schmalzkuchen, der Applaus für Thalheim und Schulze wirkt eher pflichtbewusst. Matthias Greffrath wirkt nachdenklich, er spricht, als laufe die ganze Zeit eine Mission in seinem Kopf ab, die Mission Bürgerbewegung. „Wir müssen über Formen nachdenken und überlegen, wie wir noch mehr Leute erreichen.“ Die Formate müssten mehr knallen, meint er.

Insgesamt, so hat es den Eindruck, braucht es in MV schlicht eine Kultur des (finanziellen) Ermöglichens und Möglichmachens. Trifft man all diese emsigen Menschen, hört man sie von ihren Projekten erzählen, kommt einem manchmal das in den Sinn, was die Grünen gerade im Wahlkampf vor sich herbeten: Die (Zivil-)Gesellschaft ist – auch im Osten – vielerorts weiter als die Politik. Man muss sie nur machen lassen.

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