Lebenslange Haft für Halle-Attentäter: Höchststrafe für Menschenfeind
Im Prozess zum Anschlag von Halle sucht der Täter einen letzten Eklat. Die Richterin würdigt die Opfer und ringt mit der Fassung.
Noami Henkel-Gümbel gehörte zu den 51 Gläubigen, die am 9. Oktober 2019 die Synagoge in Halle besucht hatten, um Jom Kippur zu feiern. Und die beinah einem Massaker zum Opfer fielen. Kurz vor ihrem Statement am Montag wurde in dem Magdeburger Gericht der Mann verurteilt, der dafür verantwortlich ist. Der 28-jährige Rechtsextremist erhielt lebenslange Haft, mit besonderer Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung. Die Höchststrafe.
Der Rechtsextremist scheiterte im Oktober 2019 an der verschlossenen Synagogentür, tötete aber eine Passantin, Jana L., und im nahe gelegenen „Kiez-Döner“ den Malerlehrling Kevin S. Er schoss auf weitere Passanten, die teils schwer verletzt wurden. Die Tat war ein Fanal, einer der schlimmsten antisemitischen Angriffe in diesem Land seit Jahrzehnten. Seit Juli wurde darüber im Magdeburger Gericht verhandelt, 26 Prozesstage lang. Nun setzt Richterin Ursula Mertens den Schlusspunkt. Und sie tut es eindrücklich.
Seit 13 Jahren ist Mertens vorsitzende Richterin, normalerweise spricht sie ihre Urteile frei. Diesmal aber hat die 57-Jährige alles niedergeschrieben, auf mehr als 30 Seiten. „Um die Fassung nicht zu verlieren“, sagt Mertens. Und dennoch wird sie in ihrem fast dreistündigen Schlusswort mehrmals um Fassung ringen.
„Eine feige menschenverachtende Tat“
Als „abscheuliche, feige, menschenverachtende Tat“ bezeichnet die Richterin den rechtsextremen Anschlag. Der Täter habe diese aus „kruden Verschwörungstheorien“ heraus begangen, die jeder Logik entbehrten. „Mit einem Kampf hatte sein feiger Angriff nicht im Ansatz etwas zu tun.“ Er habe Opfer und Angehörige „in tiefes Leid gestürzt“. Er sei des Doppelmordes schuldig und des 63-fachen versuchten Mordes. Zudem muss er zwei Polizisten, die dies beantragt hatten, 4.000 und 5.000 Euro Schmerzensgeld bezahlen. Auch drei weitere Opfer muss er entschädigen.
Mertens stellt in ihrer Urteilsbegründung den Mord an Jana L. voran. Die 40-Jährige sei lebensfroh gewesen, Sängerin in einem Chor, für sie sei der 9. Oktober 2019 ein ganz normaler Tag gewesen. Nichts ahnend sei sie vor der Synagoge auf ihren Mörder gestoßen, der sie unvermittelt erschoss, als sie fragte, was er da mache. „Sie hatte keine Chance“, sagt Mertens. Das Leben ihrer Familie sei nun zerstört, ihre Mutter habe bis zum Schluss nicht die Kraft gehabt, am Prozess teilzunehmen, sagt Mertens.
So wird die Richterin in den nächsten Stunden fortfahren. Sie wird alle Betroffenen des Anschlags noch einmal sichtbar machen, etliche von ihnen als „Helden“ loben, weil sie andere zu schützen oder den Täter zu stoppen versuchten. Und sie wird die Lebensläufe in Kontrast zu dem Verurteilten setzen, der nach einem abgebrochenen Studium sechs Jahre lang bei seiner Mutter im Kinderzimmer saß und nichts tat, außer im Internet auf Gaming- und Chatportalen abzuhängen.
Dass Mertens die Höchststrafe verkünden werde, war absehbar. Der Attentäter hatte seine Tat selbst in einem Online-Livestream dokumentiert, er verteidigte sie ungeläutert im Gerichtssaal. Er beklagte nur, dass er zwei letztlich unbeteiligte „Weiße“ tötete. Die Tat versuchte er als Verteidigungskampf für sein Land zu inszenieren, gegen Juden und Muslime. Im Saal provozierte er die Opfer weiter mit Grinsen und Einwürfen. Vor allem aber erhoben dort die Betroffenen ihre Stimme, bezeichneten den Angeklagten als Versager und erklärten, ihren Glauben weiterzuleben, jetzt erst recht.
Der Richterin fehlen die Worte
Die Verteidiger des Angeklagten hatten noch versucht, zumindest den Angriff auf die Synagoge zu relativieren, schließlich habe der Attentäter das Eindringen hier selbst aufgegeben. Mertens aber lässt das nicht gelten. „Er war finster entschlossen, Menschen umzubringen“, sagt sie. „Menschen, die nichts anderes als ein hohes Fest feiern wollten.“ Natürlich handele es sich um versuchten Mord, in allen 51 Fällen.
Dann wendet sie sich dem „Kiez-Döner“ zu, in dem Kevin S. getötet wurde. Der 20-Jährige hatte sich noch hinter einem Kühlschrank versteckt und um sein Leben gefleht. „Fresse, Mann“, hatte der Attentäter nur geblafft und abgedrückt. Mertens spricht von einer Hinrichtung. „Mir fehlen die Worte, dies sachlich zu bewerten, wie es meine Aufgabe ist.“ Dieser Mord stehe auf „allerniedrigster Stufe“. Auch Kevin S. habe, trotz Behinderung, etwas aus seinem Leben gemacht, eine Malerlehre erkämpft. Sie spricht den Attentäter direkt an: „Er hat sich nicht ins Kinderzimmer zurückgezogen, anders als Sie.“ Unter den Zuhörern sitzt da Kevins Mutter bereits in Tränen.
Es ist einer der Momente, an denen auch Mertens ringt. Schon kurz darauf wird dies erneut geschehen, als sie über Adiraxmaan Aftax Ibrahim spricht, den der Rechtsextremist mit seinem Fluchtauto fast überfuhr. Der Somalier könne nicht zur Urteilsverkündung kommen, weil er gerade für einen Internethandel „schufte“. 2015 sei er nach Deutschland gekommen, habe hier Anfeindungen erlebt, und dann der Anschlagstag. Mertens spricht ihn an, auch wenn er nicht da ist. „Es ist nicht einfach für Sie, in einem Land, das Ihnen Schutz bieten soll.“ Dann bricht ihre Stimme, Mertens stockt, muss sich wieder sammeln.
Das Anfahren des Mannes, bei dem dieser Schürfwunden erlitt, wertet Mertens Senat dennoch nicht als versuchten Mord, sondern als fahrlässige Körperverletzung. Es sei nicht nachweisbar, dass der Täter ihn tatsächlich umfahren wollte. Auch die Schüsse auf Ismet Tekin, Betreiber des „Kiez-Döners“, werden nicht als versuchter Mord gewertet. Er war in den Kugelhagel geraten, den der Attentäter auf Polizisten abfeuerte. Beide Betroffene hatten nachdrücklich darum gebeten, die Tat gegen sie als versuchten Mord zu werten.
Weiter „massiv gefährlich“
Mertens wendet sich den anderen Opfern zu. Dem Paar aus Wiedersdorf vor Halle, von dem der Attentäter auf seiner Flucht ein neues Auto erpressen wollte. Jens Z. schoss er dabei in den Hals, Dagmar M. in den Oberschenkel. „Sie taten, was Sie am besten können, Sie schossen von hinten“, sagt Mertens kühl. Auch das Paar sei bis heute schwer traumatisiert, sie könnten nicht mehr in ihr Haus zurück, weil Dagmar M. keine Treppen mehr steigen könne. Bis heute sei die Frau arbeitsunfähig.
Und die Richterin dankt den zwei PolizistInnen, die den Attentäter schließlich festnahmen. Bis heute würden diese indes nicht geehrt, gibt sich Mertens erstaunt. Auf einer Gedenkveranstaltung sei einer der beiden nicht als Gäste, sondern als Wachschützer eingesetzt worden.
Die Betroffenen hatten im Prozess dagegen kritisiert, wie unsensibel PolizistInnen am Anschlagstag mit ihnen umgegangen seien und wie wenig das rechtsextreme Onlinenetzwerk des Täters ausgeleuchtet wurde. Auch Mertens nennt den Rechtsextremisten einen Einzeltäter, der aber im Internet Gleichgesinnte gesucht und gefunden habe. Und sie nimmt die Ermittler ins Schutz. Deren Aufgabe sei es gewesen, die Aktivitäten des Angeklagten im Internet nachzuzeichnen, nicht ein allgemeines Lagebild abzugeben.
Offene Kritik richtet die Richterin dagegen an die Familie des Attentäters. Wie könne es sein, dass diese den Sohn jahrelang isoliert in seinem Zimmer leben ließ, ohne ihn aus der Lethargie zu reißen, ohne ihn zu einem Psychologen zu schicken? „Niemand führte ihn zurück. Womöglich wollte dies auch niemand.“
Dass der Täter weiter „massiv gefährlich“ ist, daran besteht für Mertens kein Zweifel. Sie sagt es ihm direkt ins Gesicht. „Sie sind ein Menschenfeind.“ Der Verurteilte habe seine Taten reuelos verteidigt und erklärt, sein Kampf sei noch nicht vorbei. Im Prozess sei er mit verstörender emotionaler Kälte aufgetreten. Als ihn eine Betroffene fragte, ob er auch Kinder getötet hätte, hatte der Angeklagte dies bejaht. Auch aus diesen könnten ja mal Feinde werden. „Allein dieser Satz würde im Grunde schon die besondere Schwere der Schuld begründen“, sagt Mertens. Auch eine verminderte Schuldfähigkeit sieht die Richterin nicht. Der Attentäter habe genau gewusst, dass sein Tun nicht erlaubt war.
Aus dem Gericht geschleift
Der Verurteilte schaut Mertens an, verfolgt ihre Worte aber weitgehend regungslos. Nur wenn die Richterin ihm sein politisches Motiv abspricht, zieht er die Augenbrauen hoch oder murmelt kopfschüttelnd vor sich. Am Ende sucht er noch einmal einen Eklat. Als Mertens den Prozess schließt, nimmt er seinen roten Schnellhefter und wirft diesen auf die Betroffenen und ihre AnwältInnen. Polizisten überwältigen ihn sofort und schleifen ihn aus dem Saal. Es ist ein so symptomatischer wie jämmerlicher Abschluss.
Der Verurteilte wird nun viele Jahre in Haft kommen, vielleicht für immer. Auch in Sicherungsverwahrung wird zwar irgendwann eine Freilassung geprüft. Gilt der Inhaftierte aber weiter als gefährlich, bleibt er in Haft. Und dass er dies ist, daran ließ der Attentäter von Halle keinen Zweifel.
Auch die Betroffenen hatten die Höchststrafe für ihn gefordert. Aber für sie ging es noch um mehr. Sie forderten auch Antworten auf ihre offenen Fragen ein. Radikalisierte sich der Angeklagte wirklich unbemerkt? Mit wem war er online vernetzt? Haben die Behörden die rechtsextreme Gefahr gut genug im Blick?
Das Urteil nehmen einige von ihnen enttäuscht auf. Dass sein Fall nicht als versuchter Mord gewertet wurde, sei eine „riesengroße Enttäuschung“, sagt Ismet Tekin, der „Kiez-Döner“-Betreiber. Natürlich sei auch er Opfer, der Täter habe auf jeden geschossen, den er sah. „Aber wir geben nicht auf, egal welches Urteil“, sagt Tekin. „Wir werden das Beste geben für diese Gesellschaft und gemeinsam tun, was in unserer Macht steht.“
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