piwik no script img

Lebensgefühl von EinwandererkindernDas Trauma von Mölln

Mit dem Brand in Ludwigshafen war die Erinnerung sofort da: 90er-Jahre, Anschläge auf Häuser in Mölln und Solingen. Damals hieß es plötzlich auch für "Abiturtürken": "die" gegen "uns".

Deutsche Fachwerkidylle in Mölln. Bild: dpa

Haben Sie sich je gefragt, warum Fußballer, die aus der Jugend des SV Wanne-Eickel stammen, lieber für die türkische als für die deutsche Nationalmannschaft spielen? Türkische Einwanderer so viel Wert darauf legen, bei der Einbürgerung ihren alten Pass zu behalten? Es bei der Partnerwahl der Deutschtürken und Deutschtürkinnen fast so strikt nach dem Prinzip equal but separate zugeht wie in Hollywoodfilmen?

Eine von mehreren Antworten verweist auf jene Ereignisse, die der Brand in Ludwigshafen in Erinnerung gerufen hat: Mölln und Solingen. Dass die Deutschtürken die neun Toten von Ludwigshafen sofort damit in Verbindung gebracht haben, zeigt, wie tief sich die Morde vom November 1992 und Mai 1993 ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Besonders traumatisch waren diese Anschläge für die erste hier aufgewachsene Generation von Einwandererkindern, meiner Generation. Mölln und Solingen lehrten uns, dass wir bedroht waren. Dass man uns hier nicht wollte. Dass es überhaupt ein Uns gab.

Für einen - um mit Feridun Zaimoglu zu sprechen - "Abiturtürken" wie mich war das keineswegs selbstverständlich. Von meinen Eltern und meinen autonomen Freunden hatte ich gelernt, dass die Grenzen nicht zwischen den Völkern verliefen, sondern zwischen oben und unten. Bei anderen war das Lebensgefühl nicht derart in Welterklärungen eingebunden. Doch das Ergebnis war dasselbe: Wir sahen uns vielleicht nicht als Deutsche, aber auch nicht als Türken und erst recht nicht als Fremde. Plötzlich war das egal. Denn sie sahen uns als Türken.

Nun hatte ich auch vorher zu spüren bekommen, dass mich etwas von deutschen Freunden unterschied. Etwa in der Grundschule, als ich, obwohl im regulären Deutschunterricht Klassenbester, dazu verpflichtet wurde, an "Deutsch für Ausländer" teilzunehmen – und später an "Mathe für Ausländer". Oder als ich mit 16 eine Aufenthaltsberechtigung beantragte, forderte die Ausländerbehörde ein amtsärztliches Gesundheitszeugnis, Kotprobe inklusive. Offenbar hatte ich nicht einfach das Recht, dort zu leben, wo ich mein ganzes Leben verbracht hatte. Vielmehr hing dieses Recht von der Beschaffenheit von Scheiße ab.

Solche Erfahrungen kratzten am Lebensgefühl. Aber um es zu erschüttern, bedurfte es mehr.

1988/89 zogen Rechtsextremisten in Landesparlamente ein. 1989, zum Fall der Mauer, tauchten in unserer Nachbarschaft deutsche Fahnen auf, die sich bis zur Fußball-WM im Sommer rasch vermehrten. "Das geht gegen uns", sagte meine Mutter. Tatsächlich kam es so, wie es mit ihr viele Einwanderer befürchtet hatten: Im Sommer 1990 zettelte die CDU eine Kampagne gegen "Scheinasylanten" an, der sich die meisten Medien, allen voran Bild und Spiegel, anschlossen. Die Neonazis, die in Hoyerswerda oder Rostock nahezu unbehelligt von der Polizei zu Werke gingen, hatten allen Grund dazu, sich als Vollzugsorgan des "Volkswillens" zu fühlen. Und nicht obwohl, sondern weil im August 1992 etliche biedere Mecklenburger beim Einschlagen der Brandflaschen "Zugabe" gerufen hatten, beschloss der SPD-Vorstand, der faktischen Abschaffung des Asylrechts zuzustimmen.

Jetzt galt es, etwas für das ramponierte Ansehen des wiedervereinigten Deutschlands zu tun und den drohenden Schaden für die Exportwirtschaft abzuwenden. "Lichterketten gegen Hass und Gewalt" nannten sich diese Veranstaltungen. Doch die entfesselte Welle war nicht mehr aufzuhalten. Wenige Tage nach dem Auftritt des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vor 300.000 Menschen in Berlin, der in "Heuchler"-Rufen unterging, brannte das Haus der Familie Arslan in Mölln.

Aber diesmal hatte es nicht isolierte Flüchtlinge getroffen. In Rüsselsheim war es zuerst die Opel-Betriebsleitung, die die Gefahr erkannte. Zusammen mit dem Betriebsrat schaltete man Traueranzeigen und legte während der Arbeitszeit Gedenkminuten ein. Man wollte eine verängstigte wie zornige türkische Belegschaft beruhigen.

Die Sorge war berechtigt. Ich erinnere mich, wie ich auf der Vollversammlung, die eine hilflose Schulleitung einberufen hatte, die Appelle an "Toleranz" zurückwies und Ralph Giordano zitierend zum bewaffneten Selbstschutz aufrief. Nicht alle Einwanderer hießen diese Idee für gut, aber für abwegig hielt sie in jenen Tagen kaum jemand. Denn Mölln war überall. Kurz nach dem Anschlag griffen in Rüsselsheim Skinheads einen Treffpunkt türkischer Jugendlicher an. Diese revanchierten sich, indem sie eine Kneipe zerlegten, in der sich rechtsextreme Fußballfans trafen. Der große Aufstand aber fiel aus. Warum?

Vielleicht auch darum: Keine 24 Stunden nach dem Anschlag standen Nachbarn, die mit meinen Eltern nie mehr als ein paar belanglose Worte im Treppenhaus gewechselt hatten, mit Blumen in unserer Wohnung. Bild-Leser und CDU-Wähler, die bestimmt für die Abschaffung des Asylrechts waren, denen es aber auch nicht um den deutschen Export ging. Ihre Scham war echt, und sie wollten meine Eltern um Verzeihung bitten.

Umso grandioser war das Versagen der Politik. Helmut Kohl weigerte sich, die Überlebenden von Mölln zu besuchen. Nach dem Anschlag von Solingen schickte er ein Beileidstelegramm an den türkischen Staatspräsidenten und ließ sich folgerichtig auf der Trauerfeier in Köln von seinem Außenminister Klaus Kinkel vertreten, der dort auf die Kommastelle vorrechnete, wie viele Steuern und Abgaben die hiesigen Türken leisteten. Es war als Argument gemeint, sie nicht totzuschlagen.

Damals dachten viele ein letztes Mal ernsthaft über eine Rückkehr nach. Dass es bei Gedankenspielen blieb, hatte etwas damit zu tun, dass Staat und Gesellschaft nun den Neonazis auf die Pelle rückten und auf Solingen nichts Vergleichbares folgte (abgesehen vom von Amts wegen vertuschten Brandanschlag 1996 in Lübeck). Das Leben ging ohnehin in eine andere Richtung: Man kaufte Häuser und Wohnungen, gründete Geschäfte, übernahm die deutsche Staatsbürgerschaft und kam sich von Urlaub zu Urlaub in der Türkei immer fremder vor. Die nachwachsende Generation dachte ohnehin nicht daran, Deutschland zu verlassen.

Als ich im Jahr nach Solingen mein Abitur machte, war dies für ein türkisches Arbeiterkind nicht mehr so ungewöhnlich. Etwa zur selben Zeit beschloss der junge Cem Özdemir, in die Politik zu gehen. Den gleichen Entschluss fasste meine Freundin E. - allerdings reifte in ihr die Überzeugung, dass sie in Deutschland keine Chance haben würde, weshalb sie später mit ihrem Einserdiplom im türkischen Außenministerium anheuerte. Wieder andere, die sich weder von den Traditionen ihrer Eltern noch der Mehrheitsgesellschaft angezogen fühlten, suchten ihr Heil in einem strenggläubigen Islam. Und natürlich waren die Nationalisten zur Stelle, um die wütenden jungen Leute, insbesondere die Jungs ohne Abitur, einzusammeln.

Misstrauen, Distanz, mitunter Abgrenzung hatte es schon vor Mölln und Solingen gegeben, und in den Jahren gingen diese Gefühle wieder zurück. Der WM-Sommer 2006, als die Deutschtürken schwarzrotgoldene Fahnen nicht mehr fürchteten, sondern selbst fröhlich schwenkten, hat gezeigt, dass sie Dinge nicht ständig mit der Solingen-Brille sehen. Andererseits haben die Kampagne von Roland Koch oder die Reaktionen auf den Brand in Ludwigshafen offenbart, wie zerbrechlich das Verhältnis noch immer ist und wie schnell sich das Trauma, das Gefühl von fehlender Anerkennung zurückmelden.

Wo stünden wir heute, wenn es Solingen und Mölln nicht gegeben hätte? Oder wenn die Politik darauf anders zu reagieren gewusst hätte? Vielleicht hätten wir etwas mehr Normalität. Eine Normalität, die es auch braucht, um über Dschihadismus, jugendliche Gewalttäter oder Ehrenmorde zu sprechen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • IN
    Ihr NameSandra

    Es ist immer alles von 2 Seiten zu betrachten. Ich bin halb Deutsche jüdischer Abstammung, meine Eltern haben in ganz Europa gelebt; mein Stiefvater ist Libanese; meine Schwester spricht neun Sprachen, ich 5, bin mit einem Inder verheiratet und habe einen Sohn, mein bester freund ist Italiener. Man kann mir nicht vorwerfen; nicht multikulturell zu sein. Ich habe türkisch in der volkshochschule gelernt weil ich mit 20 Türken meine gesamte Jugend im Karateverein verbracht habe.

     

    Und ich weiß: Ein Deutscher/ eine Deutsche, der/die in der Türkei auch nur einen Toilettenwagen etablieren möchte hat keine Chance. Alle Möglichkeiten, die türkische oder generell ausländischen Familien hier geboten bekommen gibt es in anderen Ländern nicht so (exklusive Skandinavien, USA, Holland). Ich war schon sehr oft in der Türkei und weiß, daß Großstädte wie Ankara, Istanbul oder Izmir sehr modern sind (das waren sie auch vor 20 Jahren schon). Nur sollte man mal überlegen, was in der Türkei los wäre, wenn Millionen Deutsche sich dort ansiedeln würden.

     

    Ich weiss, das alles hat nichts mit dem Thema zu tun aber es regt mich trotzdem jedes mal wieder auf. Als Atheistin würde ich mich am liebsten dafür einsetzen endlich Kirchen in der Türkei aufzubauen! Sehr ungerecht das alles!

     

    Sukran!

  • AA
    Ali Alias

    Yo

    Kartoffel

    ,soll

    ich dir

    die Stange

    halten,...

    und die "Bild",...!?

  • S
    Sugus

    @ Serkan

     

    Was Dein Landsmann (?) Yücel über sein "Lebensgefühl" schrieb, verfassen Algerier in Frankreich und Pakistanis in England in derselben Weise - ohne entsprechende Möllns und Solingens. Wo ist also das Deutschspezifische? Nirgends. Wo ist der gemeinsame Nenner? Vielleicht könnte er darin liegen, daß alle europäischen Gesellschaften Probleme mit dem importierten Islam haben.

    Es geht um das Hier und Heute. Für den durchschnittlichen Deutschen ist es weitaus wahrscheinlicher, den Stiefel eines jungen Türken an den Kopf zu kriegen, als von einem Skinhead attackiert zu werden. Das ist nun mal Tatsache, und ich hätte gern, daß die Migranten dazu so eindeutig Stellung nehmen, wie es die Deutschen in den 90ern mit ihren Lichterketten getan haben.

  • ST
    Serkan Tunca

    Die Verfasser der Kommentare hier, haben rein garnichts aus dem hier verfassten Text verstanden!

     

    @ Sugus

    heutzutage prügeln sich Punks mit sogut wie jedem, es gibt auch ein kleines Spektrum von rechten Punks die in der Neonazis Szene vertreten sind. Die Punk Szene ist schon lange tot in der BRD. Nicht mehr vergleichbar mit den 80ern und 90ern.

  • S
    Sugus

    @ torge

    In Frankfurt prügeln sich Punker mit Türken. Das hätten sie früher auch nicht gedacht, oder? Kommt Zeit kommt Tat.

  • S
    Shrike

    Ähm.... Taz ?

     

    Tja, vergesst meinen obigen Kommentar, der wurde gerupft.

     

    Da war in ... einem anderen Magazin jedenfalls ein ziemlich übler Bericht von vor fast einem Jahr über eine Hetzjagd auf Deutsche (KEINE Nazis) durch einen türkischen Mob inklusive deutschenfeindlicher Morddrohungen.

     

    Nur dass da nicht die Republik kopfstand wie im Fall Mügeln.

    Und das ist dann schon erschreckend.

    Und wenn das so weitergeht wird es schlimm.

     

    Und an torge:

     

    Ich lebe auch in Berlin und komme aus Neukölln.

    Nein, es sind noch keine Bürgerwehren gegründet worden in Berlin, aber ich und etliche Leute die ich kenne wurden schon auf der Straße angegriffen.

    Diese Abzieherei ist einer der Gründe warum gewisse Leute nicht sonderlich beliebt sind.

     

    Und ich habe schon Sprüche von Leuten (nein, keine Nazis)gehört, die die Neonazis quasi als Schutzmacht gegen türkische Banden empfunden haben.

     

    Ich für meinen Teil halte gar nichts von deutschen Nazis.

    Von rechten Türken (links sind diese Gangs sicher nicht) aber auch nicht.

     

    Sugus hat leider Recht, die Lage ist komplizierter und vielleicht auch bedrohlicher geworden.

  • K
    Kreuzberger

    Es gibt nur eine Gruppe unter den Migranten, die ständig Schwierigkeiten macht. Nun, jetzt wissen wir dank Yücel ja auch, weshalb, alles wegen Solingen und Mölln. Und eigentlich macht er auch klar, dass man das 3. Reich nicht mehr bemühen muss, man hat ja die Solingen/Mölln-Keule.

  • TF
    T. fuchs

    Über Ehrenmorde (feige Morde muslimischer Machos an wehrlosen Frauen) darf man also überhaupt nicht sprechen, weil die dafür erforderliche Normalität fehlt, und die Normalität fehlt wegen der Brandanschläge?

     

    Wer ein Thema verbieten will, ist ohnehin totaliär. Wer die Diskussion über Verbrechen untersagen will, ist selbst Verbrecher. Die Brandstifter sind verurteilt. Gewalt gegen Türken gibt es selten, und wenn, werden die Täter verfolgt und bestraft. Aber nach zehn Jahren fehlt immer noch die Normalität, um über "Ehrenmorde" zu sprechen?

  • S
    Shrike

    Tja, leider hat Sugus nicht ganz unrecht.

     

    Einmal Mügeln auf türkisch bitte !

     

    So weit sind wir schon...

    Das ist das Beste was den Nazis passieren kann.

  • T
    torge

    @ Sugus:

    Als Einwohner eines solchen Berliner "Problemkiezes" kann ich ihnen sagen dass "die Deutschen " nicht zum bewaffneten Selbstschutz greifen werden. Menschen wie sie vielleicht schon.

     

    Ein hochinteressanter, sehr persönlicher Bericht! Vielen dank dafür.

  • S
    Sugus

    Die Brandanschläge waren schrecklich und verständlich, daß "bewaffneter Selbstschutz" im Raum hing. Zu genau demselben werden die Deutschen früher oder später greifen, wenn die Polizei der Migrantenbanden nicht mehr Herr wird. Mölln und Solingen waren gestern, Wedding und Neukölln sind heute.