piwik no script img

Leben in einer Kurve

■ Andrzej Szcypiorski liest aus seinem Buch „Selbstportrait mit Frau“

Das Leben des polnischen Schriftstellers Andrzej Szcypiorski (geb. 1924) umspannt die Extreme unseres Jahrhunderts: Er nimmt am Warschauer Aufstand teil und wird im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert, als er sich in Polen der Opposition anschließt, kommt er erneut ins Internierungslager. Das Schreiben Szcypiorskis umkreist die Frage, was für Menschen dieses Katastrophen-Jahrhundert hervorgebracht hat. „Überraschte Opfer, erstaunte Henker“ – sein irritierender Befund entzieht sich der eindeutigen Zuordnung in Gut und Böse, Opfer und Täter.

„Der einzige Stoff für meine literarische Arbeit ist meine Erinnerung. Ich beschreibe das Gedächtnis, nicht die Vergangenheit.“ Die klug komponierte Lesung Szcypiorskis in der Katholischen Akademie am vergangenen Mittwoch verdeutlichte dieses Credo des Publizisten, Politikers und Schriftstellers. Im Roman Selbstporträt mit Frau erinnert sich der Protagonist daran, wie lustvoll und gefährlich Liebesspiele unter dem Bildnis Stalins im Jahr 1953 sein konnten.

„Der Mensch lebt in einer Kurve der Geschichte, ohne daß er es bemerkt.“ Wie stark persönliches Erleben und die Wahrnehmung historischer Zäsuren auseinanderklaffen, zeigt der Essay „Es wird nicht mehr geschossen“ aus dem Buch Europa ist unterwegs. Eindringlich schildert er darin seine drei Erfahrungen des Kriegsendes: Am 22. April 1945 befreien russische Truppen das KZ Sachsenhausen, Anfang Mai 1945 ist der ausgemergelte Szcypiorski im zerstörten Berlin benommen von der „Ekstase des wundervollen Sieges“, im Frühjahr 1990 schließlich, angesichts der Verabschiedung russischer Truppen, die Polen nun verlassen, „fühlte ich mich wirklich frei“.

Abweichend vom offiziellen Datum des Kriegsendes, dem 8. Mai 1945, behauptet der Schriftsteller seine Wahrheit der Erinnerung, die quersteht zu der Wahrheit in den Geschichtsbüchern. Szcypiorski seziert die schmerzhaften Schnitte der Geschichte, die er am eigenen Leib erfahren mußte.

Frauke Hamann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen