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Leben in WidersprüchenIch bin nicht unglücklich

In der Regionalbahn spricht ein Junge am Handy laut über intime Dinge, und alle hören mit. Auch unsere Kolumnistin.

In Zügen wird mitunter sehr laut telefoniert, und alle hören mit Foto: Frank Molter/dpa

I ch sitze im Zug von Hamburg nach Kiel und schreibe meine Kolumne. Es ist keine glamouröse Reise. Der Alltag rast an mir vorbei. Die Sitze haben keine Tische vor sich, ich muss auf meinen Knien tippen. Es gibt auch keine Steckdosen, die Ladung meines Handy-Akkus geht dem Ende entgegen. Das sind so die Probleme heute, morgen wird es andere geben, und dann werden mir diese lächerlich vorkommen und sie kommen mir jetzt schon lächerlich vor.

Auf dem Weg von der Holstenstraße bis zum Dammtor haben mich drei Bett­le­r*in­nen angesprochen. Zwei Männer, sie waren ziemlich erledigt, man sah es ihnen an. Am Dammtor eine Frau, ich war einigermaßen überrascht, denn ich hätte sie nicht als Bettlerin erkannt. Nicht an ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihrer Haltung. Und warum soll man das auch können? Sie hatte einen schmutzigen Verband um die Hand gewickelt, das hätte ein Hinweis sein können.

Ich sagte, „ich weiß gar nicht, ob ich Kleingeld habe“. Sie sagte, „das hat heute doch kaum noch jemand“ und lächelte. Ich dachte, das könnte ich sein. Ich gab ihr was. Den Männern in der S-Bahn hatte ich nichts gegeben. So wähle ich aus, jeden Tag, und es geht auch nicht anders.

Mein Einkommen ist so gering, dass ich davon meine Kosten nicht decken kann, aber ich laufe in einem schicken Mantel herum und ich habe ja Kleingeld in meinem Portemonnaie. Ich habe.

Ich bin mir selbst unsicher über mich

Das sind diese Widersprüche. Ich bin mir selbst unsicher über mich und meine Lage. Jetzt sitze ich im Zug nach Kiel, die Sonne scheint, wir haben eben Elmshorn verlassen, Leute sind eingestiegen, ein Junge telefoniert mit einem Kumpel. Das Telefon ist laut gestellt, deshalb kann ich sagen, es ist ein Kumpel, mit dem er spricht. Das ganze Gespräch ist mithörbar, von allen. Sie reden über eine junge Frau, die offenbar ein Kind von diesem Jungen bekommen hat.

„Ich hab sie getroffen, Alter, ich geh da so die Straße lang, da geht sie mit ihrer Mutter und mit X (das Kind offensichtlich), und sagt mir nicht ‚Hallo‘, nix. Geht einfach vorbei, als ob sie mich nicht kennt, Alter, das ist mein Kind, Alter!“

Alter, der Kumpel, stimmt ihm zu. Sie scheinen beide kurz betrübt. Der Junge redet weiter, über eine andere Frau jetzt, nennt ihren Namen (ich nicht), sagt, „ich hab mit der geschlafen, aber sie war voll schlecht, Alter.“

Ich denke, er denkt wahrscheinlich, dass er voll gut ist. Dann geht das Gespräch so weiter und ich denke, das ist ein Regionalzug nach Kiel, so ist das, so geht das hier. Leute packen ihre Stulle aus, reden öffentlich über Geschlechtsverkehr.

Er weiß vielleicht nicht, wie er anders sein soll

Als der Junge aussteigt, an mir vorbeigeht, kann ich ihn mir ansehen, er ist kein Mann, er ist ein Junge, er hat etwas nach innen Gedrücktes an sich, seine Kleidung ist ein Witz, sicherlich hat er viel Zeit darauf verwandt, sie auszusuchen, aber sie ist ein Witz, er ist ein Witz und vielleicht weiß er es nicht, aber er ahnt es. Und er hat ein Kind und das Kind soll ihn nicht kennen. Er trifft es auf der Straße, sieht es, aber er darf es nicht kennen. Draußen Lärmschutzwände, ein beschrankter Bahnübergang. Wrist. Er ist er und er weiß vielleicht nicht, wie er anders sein soll, ob er das überhaupt will und wie es richtig wäre, dabei geht es ihm nicht anders als mir.

Ich habe meinen schönen Mantel und kann einer Frau, die ich sein könnte, ein Geldstück schenken. Es scheint mir nichts weiter zu sein und nichts zu bedeuten. Es ist Ungerechtigkeit, es ist Traurigkeit und die Sonne scheint, es ist Mai. Ich bin nicht unglücklich.

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Schriftstellerin
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7 Kommentare

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  • Sehr gut geschrieben- Facetten , Nuancen , mit dem Blick zu sich als BeobachterIn . Das bewegt m.E. häufig mehr als 30 kritische Analysen . merci .

  • Noch ein kleiner Nachtrag:



    Dies war der erste Artikel, den ich von Katrin Seddig je gelesen habe.



    Wie konnte ich diese tolle Frau bis jetzt übersehen, obwohl ich schon so lange die TAZ lese?



    Egal. Ich habe einiges jetzt nachgeholt und noch viele weitere ihrer Artikel gelesen und werde nach und nach weiter aufholen. Sie schreibt mir mit jeder Silbe aus dem Herzen. Jeder Gedanke könnte auch meiner sein und die Art, wie sie ihre Gedanken zu Papier bringt, ist großartig! Katrin Seddig ist mein Soulmate!!



    Ich schreibe das jetzt hier, weil unter all ihren anderen Artikeln die Kommentarfunktion längst abgeschaltet ist, und es musste einfach raus, und zwar sofort.

  • Bordunterhaltung ...

    Immerhin hat der Junge Mann fairerweise sein Telefon auf laut gestellt. Es ist witzlos, wenn man nur die Hälfte vom Gespräch mitbekommt. Daher bitte ich manchmal Leute, die ausgiebig im Nahverkehr telefonieren auf "laut" zu stellen, damit wir Anderen uns eine eigene Meinung bilden können.

  • Wer braucht schon Kabarett? Bahnfahren reicht.

  • Hm

  • Ein guter Artikel! Gut deshalb, weil er nachdenklich macht.



    Es ist eine Momentaufnahme des Alltäglichen. Man könnte beliebig viele solcher Momentaufnahmen beschreiben an beliebigen Orten und zu beliebigen Zeiten. Jeder erlebt solche Situationen jeden Tag. Es wirft ein Schlaglicht auf die Realität, die man allerdings nirgendwo so hautnah erlebt wie im öffentlichen Nahverkehr, weil dies eier der wenigen Orte ist, wo Populationen nicht vorsortiert sind. Ich kann jedem, der sich meist nur in seiner eigenen Blase bewegt, dringend empfehlen, gelegentlich mal den ÖPNV zu benutzen, was natürlich schon aus Vernunfts- und Umweltgründer empfehlenswert ist, einem aber auch etwas mehr Bodenhaftung verschafft.



    Die Autorin stellt hier nur fest, sie wertet nicht, und das ist gut. Man läuft durch diese skurrile, widersprüchliche, ungerechte Welt, deren Teil man ist, und kann nichts tun.



    Wäre man Bob Dylan, würde man darüber schreiben. A hard rain 's gonna fall.

  • Wunderschön geschrieben, nah bei den Menschen. Nur unter Kleidung, die ein Witz ist, kann ich mir nichts vorstellen.