Leben einer französischen Arbeiterin: Nach der Fischfabrik
In „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ widmet sich Didier Eribon einem schmerzhaften Teil seiner Herkunft: der Beziehung zu seiner Mutter.
„Du musst vernünftig sein.“ Mit diesen Worten bringen die Söhne ihre Mutter an einen Ort, an dem sie nicht sein möchte, zu dem es aber keine Alternative zu geben scheint. Während die Mutter erst weint und sich dann ins Unvermeidliche fügt, räumt der eine Sohn bereits ihre Sachen in die Schränke; der andere notiert: Das Altenheim am Rand eines Neubaugebiets im nordostfranzösischen Fismes sei „eine kalte, unmenschliche Kulisse“ – kein Wunder, dass sie da nicht hinwolle.
„Mein Herz zog sich zusammen. Was taten wir ihr an?“, fragt er sich. Bis zum späten Nachmittag bleibt dieser zweite Sohn noch bei ihr, dann nimmt auch er den letzten Bus in die Stadt.
Mit dieser brutalen Szene beginnt Didier Eribons neues Buch über den Abschied von seiner Mutter. Genau genommen sind es viele verpasste Abschiede: Nur einmal noch besucht der Autor sie im Einzelzimmer im zweiten Stock, sieben Wochen nach ihrem Einzug ins Altenheim stirbt sie. „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ – der betont nüchterne Buchtitel weist darauf hin, dass der französische Soziologe weit mehr als die persönliche Trauer eines Sohnes verhandelt.
Wie schon in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ (2009) gelingt es Eribon auch hier wieder, die individuelle Beziehung einzubetten in eine Analyse der sozialen Verhältnisse, die diese Beziehung rahmen.
Das System ist unmoralisch
Nach dem eigenen Klassenaufstieg, vom Aufwachsen als Kind einer Putzfrau und eines Hilfsarbeiters in der Provinz bis zum offen schwul lebenden Pariser Intellektuellen, stellt Eribon diesmal seine Mutter in den Mittelpunkt seiner literarisch-soziologischen Auseinandersetzung.
Neu ist weder die von Eribon selbst mitgeprägte und an Bourdieu geschulte Gattung der „Autosoziografie“ noch das Sujet: Mit der verstorbenen Mutter haben sich vor ihm im französischsprachigen Raum bereits Annie Ernaux („Eine Frau“, 1987) und Eribons Ziehsohn Édouard Louis („Die Freiheit einer Frau“, 2021) auseinandergesetzt.
Didier Eribons besondere Gabe aber ist die Verschränkung von kühler Analyse mit großer Empathie. Etwa wenn er die Situation der betagten Frau beschreibt: „Die Krankheit meiner Mutter war das hohe Alter, das Pflegeheim würde ihr ‚Gefängnis‘ sein, und sie musste sich von dem Wunsch nach Gesundheit und Freiheit verabschieden, denn sie war nicht mehr gesund und würde sich nie wieder frei bewegen, würde nie mehr frei entscheiden können.“
Für alle alten Menschen sind Altenheime „Einöden der Einsamkeit“ (Norbert Elias), die sie in der letzten Lebensphase von der Gemeinschaft isolieren. Für eine Arbeiterin wie Eribons Mutter kommen noch die „Gefängnisse“ Geschlecht und Klasse obendrauf. Eribon umreißt kurz die Lebensstationen dieser Frau, die als ungewolltes, uneheliches Kind im Waisenhaus aufwuchs, sich bereits mit 14 Jahren als Dienstmädchen verdingen musste, später als Putzfrau und in einer Fischfabrik arbeitete und, in einer Zweckehe mit einem cholerischen Hilfsarbeiter lebend, vier Söhne großzog.
Das Ehpad (Établissement pour l’hébergement des personnes âgées dépendantes, Einrichtung zur Unterbringung hilfsbedürftiger alter Menschen), wie die staatlichen Altenheime in Frankreich heißen, schildert Eribon als letzte Station eines von Zwängen und Begrenzungen geprägten Frauenlebens.
Architektonisch ähnelt das Zimmer im Ehpad den Sozialwohnungen, in denen seine Mutter zuvor lebte; auch im Heim bleiben die Angehörigen der Arbeiterschicht unter sich. Die zumeist am Stadtrand oder in Gewerbegebieten angesiedelten Einrichtungen ähneln nicht nur äußerlich Gefängnissen, sondern auch der von Personal-, Geld- und Zeitknappheit geprägte Alltag der Bewohner*innen.
Eribon spricht, einen Bericht der Bürgerrechtsbeauftragten Frankreichs über die Pflege in den Ehpads zitierend, von „institutioneller Gewalt“, die Grundrechte alter Menschen verletze, und stellt fest: „Man kann es gar nicht oft und laut genug sagen: Das System ist unmoralisch“.
Er schildert, wie seine Mutter sich am Telefon darüber beschwert, dass sie nicht mehr täglich aufstehen dürfe, das Zimmer nicht verlassen, dass man sie zwinge, Windeln zu tragen, dass sie nur einmal pro Woche geduscht werde. Ihre Klagen, manchmal unter Schluchzen vorgetragen, erreichen oft nur den Anrufbeantworter – die Söhne sind mit ihren eigenen Leben beschäftigt oder fühlen sich machtlos angesichts der Zustände, die vielfach skandalisiert wurden und an denen sich doch nichts ändert.
Pflegeheime als Renditeobjekte
Überrascht stellt Eribon fest, dass die Situation in privaten Pflegeheimen noch schlimmer sei: Diese seien als Renditeobjekte einem noch gnadenloseren Sparzwang unterworfen; das führe zur absurden Situation, dass den Bewohner*innen vermeintlicher „Premiumresidenzen“ das Essen rationiert werde. Ein schwacher Trost für den Sohn, der sich mit Schuldgefühlen quält, der Mutter kein „besseres“ Heim bieten zu können.
Das Sterben sei für seine Mutter das letzte Aufbegehren gewesen, das ihr noch blieb. Eribon überlegt: „Der Beschluss zu sterben erfordert sicher viel Mut und Entschlossenheit […].“ Auf anrührende Weise beschreibt er, wie seine Mutter als 80-jährige Witwe zum ersten Mal die Liebe kennenlernte; als auch diese späte Beziehung zu Ende geht, ist ihr Lebenswille dahin.
Zuvor aber erlebte sie, wie die „Unwürdige Greisin“ bei Bertolt Brecht, „kurze Jahre der Freiheit nach langen Jahren der Knechtschaft“. Wie in Brechts Kurzgeschichte stößt ihre Liebe an die Grenzen gesellschaftlicher Konventionen, der Mann ist jünger und zudem verheiratet. Die Kinder missbilligen diese Beziehung (für seine heterosexuellen, mackerhaften Brüder hat Didier Eribon nur Verachtung übrig) – nur der schwule Sohn solidarisiert sich mit ihrem „unstatthaften“ Begehren.
Obsessive Abwertung anderer
Diese Solidarität endet jedoch an einem Punkt: am vehementen Rassismus der Mutter. Den Hass auf „die da oben“ sowie „die Nordafrikaner“, „die Schwarzen“ und „die Chinesen“ ließ Didier Eribon als junger Mann zurück, als er sein Herkunftsmilieu verließ. Schon in „Rückkehr nach Reims“ arbeitete er sich öffentlich an der Frage ab, wie nämlich aus einer stolzen kommunistischen Arbeiterklasse schließlich Front-National-Wähler*innen werden konnten.
Nun fragt er sich, warum diese Frau, die selbst von einem spanischen Gitano abstammt, sich in der obsessiven Abwertung anderer Marginalisierter gefällt. Eribon stellt fest, dass seine Mutter kein Einzelfall ist: „In der weißen Arbeiterschaft schien der Rassismus ein verbindendes Element zu sein, schien er die Menschen in ihrer Beziehung zur Welt und zu anderen zu bestärken.“
Nein, ein verklärendes Mutterbuch ist „Eine Arbeiterin“ nicht geworden, überhaupt ist es ein Buch, das einfache Analysen vermeidet und gerade deshalb zum Nachdenken anregt. Bei aller Empathie für ihre Klasse und Lage, bei aller in der Tradition Simone de Beauvoirs vorgebrachten Anklage einer Gesellschaft, welche die Alten aus ihrer Mitte verbannt: Eribon zeichnet seine Mutter nicht nur als Opfer der Verhältnisse, er zeigt sie auch als engstirnige, erratische, wenig sympathische Person.
Auch sich selbst schont er nicht, wenn er erzählt, dass er die Mutter nicht zur Theaterpremiere von „Rückkehr nach Reims“ in Berlin einladen will, weil er sich für sie schämt. Aus der schmerzvollen Feststellung, „Ich war ein Sohn, jetzt bin ich keiner mehr“, spricht auch eine gewisse Erleichterung des „Klassenflüchtlings“, mit dem Tod der Mutter das letzte Band zu seinem Herkunftsmilieu gelöst zu sehen.
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