Leben als weiblich gelesene Person: Ewig fruchtbar bis ins hohe Alter
Bei männlich gelesenen Personen wird mehr gelesen als ihr Äußeres, zum Beispiel ihre Artikel zu brennenden Fragen der Zeit oder ihr Kontoauszug.
Erzähl das deiner Friseurin“, sagte der Vater meiner Kinder manchmal zu mir, wenn er keine Lust hatte, sich etwas anzuhören über drohenden Zehennagelkrebs oder den jüngsten Streit mit meinem Kollegen oder meiner Mutter, und dann sagte ich oft, „das habe ich schon“. Jedenfalls dann, wenn gerade der turnusgemäße Friseurbesuch hinter mir lag.
Fast mein ganzes Erwachsenenleben habe ich kurze Haare getragen, das sieht erstens gut aus und verlangt zweitens weder Föhn noch Styling oder irgendeine andere Art zeitfressender Aufmerksamkeit. Nur kann man sie nicht wie andere aus der Form geratene Frisuren zu einem Zopf zusammentüdeln, sie müssen regelmäßig gestutzt werden wie ein englischer Rasen oder ein Königspudel.
Seit fast 25 Jahren gehe ich daher alle sechs bis acht Wochen zu Jessi. So heißt meine Friseurin, und sie hat mich durch alle Lebenslagen begleitet und weiß mehr über mich als viele andere, aber das wird sich jetzt ändern, denn von nun an teile ich das, was ich ihr erzähle, mit allen, die solch Text gewordenes Oversharing lesen.
Das stimmt so natürlich nicht, denn ich spare hier die blutigsten Details aus. Jessi kann das ab, sie ist vom Fach und hört täglich Geschichten über Operationen, Geburtsverletzungen, untreue Ehemänner und gescheiterte Käufe von Designerküchen. Dazu möchte ich sagen, dass ich seit einer Polypen-OP als Kind unter mäßig gelungener Narkose Krankenhäuser meide, bei der einen Geburt nur eine geschürfte Schamlippe hatte, mein Mann und ich uns glücklich getrennt haben ohne das Zutun Dritter (glaube ich jedenfalls) und die einzige Küche, die ich bisher gekauft habe, von Ikea war.
Aber an der geschürften Schamlippe sollte deutlich werden, dass es in dieser Kolumne schon mal zur Sache gehen wird, und die Sache hat mit Körpern zu tun, genauer mit Frauenkörpern, denn so einen habe ich, auch wenn die jungen Menschen heutzutage sagen, ich sei eine Person, deren Körper weiblich gelesen werde (außer von vielen Kindern, die lesen mich männlich, wegen der kurzen Haare). Die Tochter von Freund:innen erzählte, dass eine Uni-Dozentin jede Woche aufs Neue abfrage, mit welchem Pronomen die Seminar-Teilnehmer:innen gerade bezeichnet werden wollen. Das sind Momente, in denen ich mich sehr, sehr alt fühle.
Aber gut, man muss mit der Zeit gehen, und viele Probleme würden sich von alleine erledigen, wenn es nur noch Personen gäbe – oder Menschen. Zum Beispiel müsste ich seltener zum Friseur gehen, weil bei männlich gelesenen Personen mehr gelesen wird als ihr Äußeres, zum Beispiel ihre Artikel zu brennenden Fragen der Zeit oder ihr Kontoauszug. Da fallen fehlende Konturen des Kopfhaars nicht so auf und die anderen Haare dürfen auch wachsen, wie sie wollen.
Am Donnerstag sehe ich Jessi und dann frage ich sie, ob sie glaubt, dass ich jetzt meine Wangen waxen muss, denn dort wächst neuerdings ein feiner Flaum. Das kommt, weil sich mit Ende 40 aufgrund des Östrogenmangels „Vermännlichungserscheinungen“ einstellen, wie es so überaus charmant auf frauenaerzte-im-netz.de heißt.
Das darf aber niemand wissen! Angezogen und von hinten soll ich bis ins hohe Alter aussehen, als wäre ich eine geeignete Sexualpartnerin für den Arterhalt. Um so zu tun, als wäre ich noch fruchtbar, wollte ich das Grau in meinen Haaren verschwinden lassen, aber Jessi hat sich geweigert. „Nä, das bist du nicht.“ Erst war ich sauer, genau wie damals, als sie mir die Haare nicht bordeauxrot färben wollte, sondern orange und ein paar Jahre später anders herum, aber jetzt denke ich: Jessi hatte recht, wie immer. Ich will in Ruhe grau und schrumpelig werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül