Lateinamerikanische Kunst in Wolfsburg: Realitäten verhandeln
Unter dem Titel „Dark Mirror“ zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg Kunstwerke aus der Daros Latinamerica Collection.
„Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.“ Im schwach beleuchteten Ausstellungsraum des Wolfsburger Kunstmuseums wärmt die aufglühende Text-Installation von Gonzalo Diaz (*1947) den Besuchern überraschend den Rücken. Der chilenische Konzeptkünstler verwendete den Aphorismus des Romantikers Novalis für seine aus Heizdrähten gefertigte Arbeit „Al Calor del Pensamiento“ (Bei der Glut des Denkens, 1999).
Gemeinsam mit 40 mittel- und lateinamerikanischen Künstlerinnen und Künstlern aus der Daros Latinamerica Collection präsentiert das Kunstmuseum Wolfsburg den Documenta-Teilnehmer von 2007 in der Gruppenausstellung „Dark Mirror. Lateinamerikanische Kunst seit 1968“.
Dafür wählte das Museum aus den Beständen der privaten Schweizer Sammlung 175 Werke aus Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Panama, Puerto Rico und Uruguay. In Zeiten knapper Kassen ist dies nicht nur für die Wolfsburger Institution ein willkommenes Arrangement, um kostengünstig internationale Kunst zeigen zu können.
Denn Ralf Beil, der neue Direktor des Kunstmuseums, betonte, dass die in Wolfsburg ausgestellte Kunst globaler werden müsse. „Dark Mirror“, der Titel der Ausstellung, nehme Bezug auf die von Gewalt geprägte Geschichte und Gegenwart des Kontinents als Thema zeitgenössischer Kunst aus Lateinamerika, reflektiere gleichzeitig aber auch den vermittelten Blick des Betrachters.
Erst kürzlich hatte die Ankündigung der Zürcher Sammlung für Verwunderung gesorgt, sie werde zum Ende des Jahres die erst 2013 eröffnete Kunsthalle „Casa Daros“, ihren Standort in Rio de Janeiro, schließen. Neben der US-Colección Patricia Phelps de Cisneros zählt auch die Schweizer Daros Latinamerica weltweit zu den renommierten Sammlungen für zeitgenössische Kunst aus Lateinamerika und zur umfangreichsten in Europa.
In Wolfsburg wählten die Kuratoren Ralf Beil und Holger Broeker derweil mehrheitlich Installationen, Objekte, Fotografien und Videos aus, die inhaltlich die gesellschaftlichen Realitäten des lateinamerikanischen Kontinents ab 1968 verhandeln – so unterschiedlich die Verhältnisse bei genauerer Betrachtung auch sein mögen.
Die Idee einer lateinamerikanischen Kunst entstand zunächst außerhalb Lateinamerikas in Zeiten des Kalten Krieges und als US-Politik der „Guten Nachbarschaft“ in den 1950er Jahren.
Bisher kaum in Deutschland ausgestellt
Während Kunstwerke von Alfredo Jaar, Guillermo Kuitca, Jorge Macchi oder Vik Muniz bereits weltweit zirkulieren, bietet „Dark Mirror“ auch die seltene Gelegenheit Künstlerinnen und Künstler kennenzulernen, deren Arbeiten bisher kaum in Deutschland ausgestellt waren, wie Donna Conlon (*1966) aus Panama, René Francisco (* 1960) aus Kuba oder Victor Grippo (1936–2002) aus Argentinien.
Kunstmuseum Wolfsburg: „Dark Mirror. Lateinamerikanische Kunst seit 1968“. Bis 31. Januar 2016. Katalog, 32 Euro.
Gerne würde man auch von ihnen mehr zu sehen bekommen, wie von Guillermo Kuitica. Dessen großformatige Matratzenlandkarte „Afghanistan“ (1990) rahmen einige seiner Skizzen und Grundrisszeichnungen aus dem Bestand der Schweizer Sammlung.
Die 33 Exponate von Luis Camnitzer bilden da eine Ausnahme. Dem 1937 in Lübeck geborenen uruguayischen „Pionier der Konzept- und Objektkunst“ ist ein eigener Raum gewidmet. Tatsächlich nimmt der in den USA lebende gesellschaftskritische Künstler innerhalb der lateinamerikanischen Konzeptkunst historisch eine Schlüsselrolle ein.
Die bestehenden Verhältnisse hinterfragen
Seine Objekte und Installationen aus Alltagsfundstücken, Textstücken und Druckgrafiken fordern das Publikum die bestehenden Verhältnisse zu hinterfragen. Camnitzers Bedeutung und sein Einfluss auf andere künstlerische Szenen hätte kuratorisch in der Ausstellung noch deutlicher werden können.
Zahlreiche Beiträge von „Dark Mirror“ spielen bewusst mit der bunten und plakativen Ästhetik US-amerikanischer Pop-Art, die sie neu interpretieren. Zu ihren beeindruckendsten Beiträgen zählt jedoch „La manzana de Adán“ (Adamsapfel) – eine kleinformatige, schwarz-weiße Serie, die 1987 noch während der Militärdiktatur Transvestiten aus der Prostituiertenszene Santiagos porträtierte. Die Fotografin Paz Errázuriz ( geboren 1944) richtet in ihren zurückhaltenden Aufnahmen einen empfindsamen Blick auf ein bis heute ignoriertes Chile der Marginalität und der sexuellen Differenz.
Allerdings hält die narrative Ausrichtung der Lateinamerika-Ausstellung auch einige Fallstricke bereit. Im Themen-Raum „Machismo, Marianismo und die Suche nach Identität“ gerät die Projektion des Videos „La Piñata“ (2003) der mexikanischen Künstlerin Teresa Serrano, in deren Inszenierung ein Mann eine Piñata aus Pappmaché und in Frauengestalt zerschlägt zur klischeehaften Illustration der Frauenmorde in Ciudad Juárez und eines Teils der mexikanischen Wirklichkeit.
Doch glücklicherweise bietet der großzügig angelegte Ausstellungsrundgang eine facettenreiche, wenn auch nicht repräsentative Auswahl zeitgenössischer Kunst aus Lateinamerika, in der wir mehr finden als „immer nur Dinge“.
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