■ Warum die Strafe für Krenz & Co. alle anderen entlastet: Lasst sie laufen
Kaum sind die letzten verhandlungsfähigen Mitglieder des ehemaligen Politbüros der SED verurteilt, da wird in Ost- und Westdeutschland eine Debatte losgetreten, ob denn die Herren Krenz, Kleiber und Schabowski nicht zu begnadigen seien. Schließlich würde man sonst für die Unverbesserlichen unter den Ostdeutschen Märtyrergestalten schaffen und finsterer DDR-Nostalgie Nahrung geben. Die Voraussetzung eines Gnadenaktes sei, dass die drei Delinquenten gefälligst Reue zeigen sollten.
Ausgerechnet am Buß- und Bettag hat mich die taz gefragt, was ich zu dieser Diskussion meine. Als gelernter Theologe verfiel ich natürlich sofort in tiefes Nachsinnen über das Verhältnis von Buße und Gnade. In der biblischen Tradition ist jedenfalls die Eröffnung neuer Lebenshorizonte – das ist Gnade – die Voraussetzung zur Umkehr vom falschen Wege – das ist Reue und Buße. Aus dieser Sicht ist die diskutierte Reihenfolge – erst Reue, dann Gnade – falsch.
Aber was soll ich mir meinen Kopf zerbrechen? Die Herren selber haben sich zum Urteil geäußert. Krenz erklärte, das sei pure Siegerjustiz, die ihn heimgesucht habe. Er hätte nichts zu bereuen. In der tiefsten Nacht des Kalten Krieges sei die Mauer gebaut worden, um eine gefährliche Zuspitzung zu vermeiden. Und als der Fall der Mauer herangereift sei, habe er die bewaffneten Organe der DDR nicht aufs Volk losgelassen. Wenn man Gorbatschow mit Ehren überschüttet, könne man ihn, den letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR, nicht in den Knast schicken, nur weil sie zum Beitrittsgebiet mutierte, Russland aber ein selbständiger Staat blieb. Der Mann ist unfähig, sich selber kritisch zu sehen. Das haben Kleinbürger so an sich. Er wird sich nicht ändern, wenn man ihn für ein paar Jahre wegschließt. Und vor allem bringt das nicht die kritische Auseinandersetzung der Ostdeutschen mit ihrer Geschichte voran.
Wenn die Stasi und das Politbüro als Sündenböcke öffentlich ausgestellt werden, dann besteht die Gefahr, dass wir anderen, die wir vierzig Jahre in diesem Staat gelebt haben, uns losgekauft sehen von unserer Verflochtenheit in die politische Situation jener Zeit. Lasst ihn laufen, den Unbelehrbaren, denke ich, aber lasst uns über unser Verhalten in jenen Jahren kritisch nachdenken und reden. Es wäre für uns im Osten wichtig zu ergründen, warum die Idee einer gerechteren Welt, die den Namen Sozialismus trug, autoritäre Systeme produzierte und Leute wie Ulbricht, Honecker und Krenz an die Spitze spülte.
Und dann ist da noch der Herr Schabowski. Er will nichts von Gnade hören. Das Urteil sei schon juristisch in Ordnung. Wenn ich ihn hemdsärmelig durch die Medien tingeln sehe und anhören muss, wie er seine Kampfgefährten von einst diffamiert, weiß ich nicht, wer mir unangenehmer ist, Krenz oder Schabowski. Er hat seine Vergangenheit ausgezogen wie ein Hemd. Ich spüre an ihm nicht die tiefe Verwunderung, die die Zerstörung einer Überzeugung nach sich ziehen muss. Er geht zu Markte mit seiner neuen Rolle und verkauft sich auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Lasst ihn laufen, denke ich. Das mindert seinen Marktwert. Knast wäre für ihn eine Aufwertung.
Aber ich denke bei dieser Debatte auch an die Mauerschützen. Einige sind rechtskräftig verurteilt. Sie waren Rädchen im System. Es gab 1961 so gut wie keinen öffentlichen Protest, als das Volk eingemauert wurde. So haben die Kirchen seinerzeit geschwiegen. Viele unter uns haben gedacht, dass die Verhältnisse innenpolitisch sich verbessern würden, wenn die Massenflucht aus der DDR endete. Wir nannten die Mauer nicht gerade antifaschistischen Schutzwall, aber in jener Zeit, als ein atomarer Weltkrieg drohte, schien uns die Stabilisierung beider Blöcke politisch geboten. Wir wussten auch, dass an der Grenze geschossen wurde, aber erst in den späten DDR-Tagen erhob sich öffentlich Protest gegen die Einmauerung und gegen das Schießen. Ich fühle mich nicht ganz unschuldig, wenn ich vom Tun der Grenzsoldaten höre. Lasst auch sie laufen.
Ich will nicht das DDR-Unrecht aus der Welt schaffen, sondern die Verdrängung in uns verhindern. Ich möchte die Mauer des Schweigens brechen. Durch die Verurteilung von Einzeltätern können wir uns nicht befreien von der Mitverantwortung für die DDR-Geschichte. Nur wer sich seinen eigenen Irrtümern und Irrwegen stellt, bekommt eine Chance, sie künftig zu vermeiden. Unverdient ist uns 1989 diese Möglichkeit zugewachsen. Ich hoffe, dass wir sie nutzen. Hans-Joachim Tschiche
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