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Aus seiner Bewunderung für Präsident Bolsonaro macht der Farmer Lúcio Damália keinen Hehl Foto: Hannah Aders

Landkonflikt in BrasilienSoja? So nein!

Im Südwesten Brasiliens haben Indigene Land besetzt, von dem ihre Ahnen vertrieben wurden. Die Farmer wollen das nicht hinnehmen.

E in verbeulter Topf ist das Einzige, was Claudiene Gomes nach dem letzten Angriff geblieben ist. Die Eindringlinge kamen am Morgen. Schüsse, Schreie, Tränengas. Mit einem Traktor rissen sie die Hütten ein, zertrampelten Gebetsstätten, raubten Wertsachen. Schließlich brannten sie das Camp nieder. ­Gomes, 42 Jahre, blond gefärbte Haare, Federschmuck auf dem Kopf, knackt die Samen der Frucht eines Annattostrauches. Die rote Farbe, sagt sie, stehe für das Blut ihrer Gemeinde. Sanft reibt sie sich mit Zeige- und Mittelfinger zwei Linien auf die Wangen. „Manchmal denke ich, es wäre besser, zu sterben.“

Gomes ist Indigene des Guarani-Stammes und lebt in Mato Grosso do Sul. Der Bundesstaat liegt an der Grenze zu Paraguay, beheimatet fünfmal so viele Kühe wie Menschen und ist eine wichtige Transitroute für den Drogenschmuggel. Hier tobt ein brutaler Landkonflikt, Indigene kämpfen gegen weiße Farmer. Es ist eines der dunkelsten Kapitel Brasiliens. Doch es ist auch eine Geschichte von Stolz und Widerstand.

Vor vier Jahrzehnten gingen indigene Familien einen gewagten Schritt: Sie eigneten sich mit Besetzungen Land an. Land, von dem ihre Vorfahren einst brutal vertrieben worden waren. „Retomadas“, Wiederaneignungen, nennen sie selbstbewusst diese Besetzungen.

Vor den Toren der Provinzhauptstadt Dourados liegt die Retomada Nhu Vera, übersetzt „Heilige Erde“. Schwere Laster rattern auf der angrenzenden Landstraße vorbei, die Häuser von Dourados sind gerade noch so am Horizont zu sehen. Claudiene Gomes’ Zuhause ist eine behelfsmäßig zusammengezimmerte Holzbaracke mit einer übergeworfenen Plastikplane. Kinder toben auf der roten Erde herum, kleine Hunde dösen im Schatten. Gomes sitzt auf einer Holzbank vor dem Camp.

„Jeden Tag bedrohen und beschimpfen sie uns“, sagt Gomes und zeigt auf ein umzäuntes Gelände. Hinter einem Feld, vielleicht 200 Meter entfernt, stehen ein Haus, zwei Wassertanks, davor ein Jeep. Tag und Nacht wachen dort die Männer eines Sojafarmers. Private Sicherheitsdienste, sagen die einen, bezahlte Milizen, die anderen. Was diese Männer getan haben, zeigen verwackelte Handyvideos. Man sieht da­rauf blutende Wunden und schreiende Indigene. Mit scharfer Munition sei auch bei der letzten Räumung wieder geschossen worden, sagt Gomes. Mehrere Verwandte von ihr wurden verletzt. Wie oft ihr Camp schon niedergerissen wurde? „13-mal in weniger als einem Jahr.“ Die Kinder sammeln die Patronenhülsen, sie selbst bastelte sich aus Gummigeschossen eine Kette. Unterstützung erhalten die Männer der privaten Sicherheitsdienste häufig von der lokalen Polizei.

„Dort drüben beten wir“, sagt Gomes und geht zu einem bemalten, mit Federn geschmückten Holzgerüst. Ihre Religion ist eine Mischung aus Schamanismus und Katholizismus.

Der Fall der Retomada Nhu Vera ist kompliziert. Die Indigenen beanspruchen das Land für sich. Einst lebten Gomes’ Vorfahren hier, unweit vom Camp liegt ein indigener Friedhof. „Das Land ist heilig für uns“, sagt Gomes. Das Pro­blem: Ein Großgrundbesitzer kann Landtitel vorweisen. Der Fall wird vor Gericht verhandelt.

„In der Stadt werden wir wie Wilde behandelt“, sagt Claudiene Gomes Foto: Hannah Aders

Seit mehreren Jahrtausenden leben Indigene in dem Gebiet des heutigen Mato Grosso do Sul. Heute bevölkern rund 50.000 Guarani-Kaiowá den Bundesstaat im Südwesten des Landes. Nur im nördlichen Bundesstaat Roraima leben mehr Indigene. Ende des 19. Jahrhunderts machten sich die ersten weißen Siedler in der Region breit, raubten den Indigenen ihr Land, pferchten sie in Reservate zusammen. Mit dem Sojaboom ab den 1960er Jahren begann eine zweite Welle der Vertreibung. Heute leben die Indigenen auf nicht einmal 1 Prozent ihres ursprünglichen Gebiets: in acht Reservaten, einzelnen legalisierten Gemeinden, aber auch in kläglichen Holzbaracken an den Rändern der Bundesstraßen.

Gomes wuchs in einem Reservat auf. „Dort hatten wir keinen Platz“, sagt sie. „Wir haben wie Tiere gelebt.“ Viele ihrer Nachbar*innen fielen Alkohol, Gewalt und Suiziden zum Opfer. Doch auch die Städte sind keine Alternative für die meisten Indigenen. Viele Weiße in Mato Grosso do Sul versuchen noch nicht einmal, ihren Rassismus zu verstecken. „In der Stadt werden wir wie Wilde behandelt“, sagt Gomes. In Geschäften werde sie häufig nicht bedient, von der Polizei schikaniert. Einmal, erzählt Gomes, musste sie wegen eines Notfalls ins Krankenhaus. Am Eingang wurde sie abgewiesen. Sie ist sich sicher: „Weil ich Indigene bin.“

Laut dem Indigenen Missionsrat CIMI wurden allein 2018, im Jahr der letzten Erhebung, 38 Indigene in Mato Grosso do Sul getötet – die meisten bei Landkonflikten. Fast wöchentlich gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen. Mehrere indigene Anführer*innen wurden ermordet. Einige Indigene antworten mit Gewalt.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der erbitterte Konflikt bekommt bisher wenig Aufmerksamkeit. Seit den Bränden im Amazonas im August 2019 hat die Weltöffentlichkeit begonnen, sich verstärkt für das Leid der Indigenen dort zu interessieren. Die dramatische Situation in Mato Grosso do Sul ist jedoch selbst vielen Brasilianer*innen unbekannt.

Die Region um Dourados ist der Hotspot der Gewalt. Dourados ist eine wohlhabende Stadt mit rund 200.000 Ein­woh­ner*innen. Sehenswürdigkeiten gibt es kaum, aber viele schicke Arztpraxen und europäische Autohäuser. Jeeps brummen auf den Straßen, in Bars mit Texasfahnen werden saftige Steaks serviert. Ein bisschen Wilder Westen mitten im brasilianischen Hinterland.

Vor den Toren der Stadt beginnt das grüne Meer. Die pfeilgerade Bundes­straße BR 163 führt durch Sojafelder, so weit das Auge reicht, gen Norden. Nur ab und zu tauchen Raststätten, Stundenhotels und gigantische Silos auf. Dahinter wieder Sojafelder bis zum Horizont und vereinzelte Weideflächen mit Rindern.

Rund 40 Kilometer von Dourados entfernt biegt eine staubige Piste von der Bundesstraße ab. Am Ende des Schotterwegs wächst ein winziges Waldstück wie ein Pilz in die Höhe. Dort steht ein Mann vor einer Scheune und telefoniert. Lúcio Damália, 67 Jahre, braun gebrannt, hochgewachsen, ist Besitzer der Boa-Vista-Farm. Trotz tropischer Hitze trägt er ein schickes Hemd, Jeans und Ledergürtel.

Damálias Urgroßeltern kamen mit dem Schiff aus Italien nach Brasilien. Seine Großeltern waren Bauern im Bundesstaat São Paulo. Damália kam 1972 nach Mato Grosso do Sul, schuftete auf Farmen, kaufte 1980 sein erstes Stück Land. „Damals gab es hier nichts“, sagt er und fläzt sich auf einen Gartenstuhl. „Kein Asphalt, kein Wasser, kein Abfluss.“ Hinter der Terrasse seines großen Hauses beginnt ein großer Garten. Frisch gemähter Rasen, Rosenbeete, Fischteich. In den Bäumen zwitschern Vögel. Eine kleine Idylle mitten im Sojaland.

Damália ist nicht nur Farmer, sondern auch Präsident der lokalen Bauernvereinigung. Und einer der wenigen, die mit der Presse reden. Seine Branche sieht er von der Öffentlichkeit in eine falsche Ecke gestellt. Die Gesellschaft lebe von ihrer Arbeit, das Agrobusiness habe die Region reich gemacht. Damit hat er nicht unrecht: Die Städte Mato Grosso do Suls sind vergleichsweise gut entwickelt. Die Landwirtschaft ist hoch technisiert, einige Menschen konnten spektakulären Reichtum anhäufen.

Lúcio Damália sagt, im Vergleich besitze er nicht viel Land Foto: Hannah Aders

Dann kommt Damália auf das zu sprechen, was er das „Indigenen­pro­blem“ nennt. Die meisten Indios seien integriert. Hätten Handys, Duschen und Fernseher. „So wie wir.“ Er selbst habe viele fleißige Indigene kennengelernt, Kurse in den Reservaten finanziert. Doch eine kleine Minderheit sorge für großen Ärger. Die Retomadas, die Damália abfällig „Invasionen“ nennt, machten ihm und seinen Kollegen schwer zu schaffen. Gar nicht weit von hier hätten Indigene Land besetzt. Vor ein paar Jahren sei ganz in der Nähe ein Polizist gefoltert und getötet worden, sagt Damália. Er selbst sei bereits erpresst worden. „Sie drohen, unsere Frauen zu vergewaltigen und unsere Kinder zu verbrennen.“

Ja, er sei dagegen, dass Bauern pistoleiros, also Auftragsmörder, engagierten. Aber irgendwie müsse man sich ja gegen die Eindringlinge verteidigen, sagt der Farmer. Und die Morde an Indigenen? „Ich weiß von keinem Indigenen, der gestorben ist“, antwortet Damália knapp. „Wenn, dann waren es wahrscheinlich Familienstreitereien.“

Damália spricht jetzt nur noch abfällig über die Indigenen. Viele seien sowieso von „den Linken“ gesteuert. „Die Indigenen behaupten, dass sie Hunger haben. Warum haben sie dann aber Smart­phones und Tablets?“ Außerdem hätten sie ein anderes Arbeitsethos. Kurz: Für Damália sind die Indigenen an ihrer Situation selbst schuld.

Aus seiner Bewunderung für Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro macht er keinen Hehl. Ohne den Ex-Militär wäre Brasilien in eine kommunistische Diktatur gesteuert, ist sich Damália sicher. Bolsonaro ließ im Wahlkampf kaum eine Gelegenheit aus, seine Nähe zum Agrobusiness zu demonstrieren. Er sprach mit Cowboyhut auf Landwirtschaftsmessen, stapfte mit Sojafarmern über Felder, beschimpfte im Kneipenjargon Indigene und Umweltschutzorganisationen. Auch Damália traf sich vor der Wahl mit Bolsonaro. Er und seine Kollegen hätten Wahlkampf für „ihren Kandidaten“ gemacht. Nicht offen, schiebt er rasch hinterher. Doch mit Erfolg. Bolsonaro gewann die Wahl 2018, in der Region Dourados holte der Rechtsradikale rund 70 Prozent der Stimmen in der Stichwahl.

Foto: Infotext

Anders als der Präsident ist Damália kein Choleriker. Er tritt höflich auf, hört genau zu, hat ein freundliches Lächeln. Manchmal, sagt Damália, übertreibe es Bolsonaro in seinen Ansprachen. Doch die Farmer hätten ihm viel zu verdanken: mehr ökonomische Freiheit, weniger Vorschriften. „Und wenn Bolsonaro uns enttäuscht, setzen wir ihn ab. Ganz einfach.“

Dann marschiert Damália los. Hinter seiner Farm erstreckt sich ein gigantisches Sojafeld. Er pflanze auch Zuckerrohr und Mais an. Doch die kleine Sojabohne bringt das große Geld. Damália stapft tief zwischen die hüfthohen Pflanzen hinein und reißt einen Sojazweig aus der Erde. Es hat viel geregnet, neue Maschinen stehen in der Scheune für die Ernte bereit. Nur noch zwei Mitarbeiter brauche er. Trotz der Coronapandemie könnte es erneut ein Rekordjahr für die Branche werden. „Wir holen bald die USA ein.“ Ein Großteil der Soja landet als Kraftfutter in den Mägen europäischer und chinesischer Rinder und Schweine. „Die Welt will billiges Fleisch. Wir liefern es“, fasst es Damália pragmatisch zusammen.

350 Hektar Land besitze er heute. Ob er das ungerecht finde? „Nein, wir produzieren Reichtum. Da haben alle etwas von.“ Außerdem sei er ja nur ein vergleichsweise „kleiner Bauer“. Das ist gar nicht mal so falsch: In der Region gibt es Farmer, die mehr als 5.000 Hektar Land besitzen.

Seit den Sechziger Jahren boomt der Anbau von Soja. Es wird auch an europäische Rinder verfüttert Foto: Hannah Aders

90 Kilometer von der Boa-Vista-Farm entfernt leben 5.000 Indigene auf 3.600 Hektar Land. Ein Holzschild markiert die Grenze zum Caarapó-Reservat. Die strohgedeckten Hütten der Indigenen liegen eng beieinander, Platz zum Anbauen gibt es kaum. Zwischen den Häuschen tauchen immer wieder evangelikale Kirchen auf. Eine rote Schotterstraße mit metergroßen Schlaglöchern führt quer durch das Reservat. Kinder radeln auf klapprigen Fahrräder vorbei, ein älterer Mann torkelt, eine Bierflasche in der Hand, am Wegrand, eine Frau mit Goldzähnen steht mit ihrem Baby auf dem Arm an einer Kreuzung.

Wie in den USA wurden die Indigenen in Mato Grosso do Sul in Reservate eingepfercht. Diese ländlichen Favelas sorgen immer wieder für Schlagzeilen: mit einer der höchsten Suizid­raten der Welt, Gewalt gegen Frauen, Drogenkonsum und einem hohen Anteil von Alkoholiker*innen. Der Werte- und Kulturverlust treibt Jugendliche in die Hände von kriminellen Banden. Und nun breitet sich dort auch noch das Coronavirus aus.

Simão lebt in einer Retomada direkt neben dem Reservat. Er sitzt unter einem Baum im Schatten und schlürft mit einem Metallstrohhalm eiskalten Mate aus einem Becher. Seinen vollen Namen will er nicht öffentlich nennen lassen, um sich und seine Familie nicht zu gefährden.

Es war eine Nacht im Juni 2016, erzählt Simão, als sich mehrere Familien aus dem Caarapó-Reservat auf den Weg machten. Ihr Ziel: das Land eines Großgrundbesitzers in unmittelbarer Nachbarschaft. Simão zieht sein T-Shirt hoch, während er erzählt. „Hier traf mich die Kugel.“ Simão, 47 Jahre, zahnloser Mund, Strohhut auf dem Kopf, zeigt auf eine vernarbte Stelle an der Brust. Er war dabei, als ein Dutzend Familien Land besetzte.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Zwei Tage später rückten Polizei und private Sicherheitskräfte an. Am Ende war ein Indigener tot, mehrere wurden schwer verletzt. Simão überlebte, doch bis heute leidet er unter starken Schmerzen. „Sie kamen, um zu töten.“ Auf eine Entschädigung wartet Simão bis heute. Immerhin wurde nach langem Kampf die Besetzung schließlich von der Justiz anerkannt. Die Indigenen können bleiben – vorerst.

Simão wurde 2016 von einer Kugel getroffen Foto: Hannah Aders

Mit seinem Sohn und seiner Frau lebt Simão in einem kleinen Holzhaus mit Strohdach. Hühner stolzieren herum, in einem Gehege grunzen ein paar Schweine, von einem Querbalken hängt ein Käfig mit weißen Ratten.

Simão ist Kaiowá. Die Retomadas, erklärt er in gebrochenem Portugiesisch, seien der Versuch einer jungen Generation, sich ihr ursprüngliches Land wiederanzueignen. Zurück auf die Tekohás, die Gebiete ihrer Ahnen.

Wenn Simão über den Schmerz seines Volkes spricht, lächelt er traurig. Schon seine Vorfahren lebten in der Gegend. „Damals“, sagt Simão, „war hier alles von einem dichten Wald bedeckt.“ Mato Grosso do Sul bedeutet „großer Wald des Südens“. In seiner Kindheit erzählten ihm seine Großeltern die Geschichten über das, was sie das „große Drama“ nannten. Mit der Vertreibung wurde auch der Wald zerstört. Heute ist der Bundesstaat fast gänzlich entwaldet. Das Land muss komplett kahl sein, damit die schweren Maschinen der Soja­barone darüber fahren können.

Hinter Simãos Haus zieht sich ein Feld sanft einen Hügel hinunter. „Hier war vorher eine Sojaplantage.“ 30 Hektar kultiviert Simão nun. „In den Reservaten wäre das unvorstellbar.“ Auf seinen Feldern pflanzt er Maniok, Reis und Mais an. Außerdem gebe es hier genug Platz für religiöse Rituale und traditionelle Bräuche.

Simão ist Optimist. Er glaubt, dass er trotz der rechtsradikalen Regierung auf seinem Land bleiben kann

„Wir brauchen Land, um leben zu können“, sagt Simão und marschiert durch sein Feld. Wenn Indigene keine Nahrung produzierten, breche die Sozialstruktur zusammen. „So eine Art von Landwirtschaft ist unser größter Feind“, sagt Simão und zeigt auf die angrenzenden Sojaplantagen. Wenn dort oben Pestizide gespritzt werden, erzählt er, sei häufig auch bei ihnen das Trinkwasser vergiftet. Manche Farmer lassen die Gifte sogar aus Flugzeugen herabregnen.

Simão zieht behutsam an der Wange seines Sohns. „Sein Auge tropft ständig, seit er eine Ladung Pestizide abbekommen hat.“ Andere Indigene klagen über Durchfall und Magenbeschwerden. Chemische Kriegführung nennen das viele. Simão, der kaum Pestizide verwendet und auf Biolandwirtschaft setzt, sagt: „Wir sind eine Insel inmitten des Giftes.“

Simãos Retomada ist von der Justiz anerkannt, anders als die provisorische Siedlung von Claudiene Gomes und ihren Mitstreiter*innen. Doch die Zukunft aller Retomadas ist ungewiss. Denn Bolsonaro kündigte „Reformen“ an. Im Wahlkampf hatte der Präsident erklärt, er wolle „keinen weiteren Zentimeter für indigenes Land“ ausweisen lassen. Per Dekret wurden den Bewoh­ne­r*in­nen der Retomadas Sozialleistungen gestrichen.

Die progressive Verfassung aus dem Jahr 1988 gibt den Indigenen zwar in vielen Punkten recht. Doch die Verbindungen zwischen Großgrund­be­sit­ze­r*in­nen, Politiker*in­nen und der Polizei sind ein offenes Geheimnis.

Und die Agrarlobby in der Hauptstadt Brasília ist mächtig: 257 der 513 Abgeordneten im Bundeskongress gehören einer parteiübergreifenden Interessenvertretung an, die mit dem Agrobusiness verbandelt ist. Präsident Bolsonaro hat wichtige Posten in der staatlichen Indigenenbehörde Funai mit Ruralisten und christlichen Funda­mentalist*innen besetzen lassen. Agrarministerin Teresa Cristina ist Agrarlobbyistin und wird auch „Königin der Pestizide“ genannt. Und der Sekretär für Landfragen, Luiz Antônio Nabhan Garcia, steht in Verdacht, Mitglied einer Milizengruppe gewesen zu sein, die auf dem Land Auftragsmorde durchführte.

Für die Indigenen in Mato Grosso do Sul bedeutet all das nichts Gutes. In dem Bundesstaat kann es gefährlich sein, sich öffentlich auf die Seite der ­Indigenen zu stellen, nur einzelne NGOs und mutige Staatsanwälte tun das.

Doch Simão ist Optimist. Er glaubt, dass er trotz der rechtsradikalen Regierung auf seinem Land bleiben kann. Und wenn nicht? „Dann kommt es zum Blutvergießen“, sagt er. „Widerstandslos gehe ich hier nicht weg.“

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