Landeskrankenhaus Lüneburg: Von Ärzten getötet
Sommer im Museum (8 und Schluss) In der "Landes-, Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg" brachten die Nazis 300 bis 400 behinderte Kinder um. Heute befindet sich auf dem Gelände die Psychiatrische Klinik Lüneburg.
LÜNEBURG taz | Einträchtig sitzt die Familie im Grünen und blickt in die Kamera. In der Mitte ein Junge, vielleicht vier, fünf Jahre alt. Sein Kopf wirkt ein bisschen größer, aber sonst ist nicht zu erkennen, dass Heinz Günter Schulze ein behindertes Kind war.
Heinz Günter Schulze wurde am 1. Oktober 1936 in Hannover geboren und wuchs im Kreise seine Familie auf. Irgendwann ergeht ein amtliches Schreiben an seine Eltern: Das Kind soll wie damals viele behinderte Kinder in einer sogenannten "Kinderfachabteilung" eines Krankenhauses untersucht werden.
Seine Mutter bringt ihn im Juli 1944 in die damalige "Landes-, Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg". Leiter der dortigen "Kinderfachabteilung" ist ein Dr. Willi Baumert - Arzt der SS. Wenig später werden die Eltern schriftlich darüber informiert, dass sich der Gesundheitszustand ihres Kindes verschlechtert habe. Dann erfahren sie, dass eine Besserung nicht eingetreten sei. Bald darauf ist Heinz Günter tot.
Warum nicht, gerade im Sommer, das aufspüren, was die Peripherie oder, gut versteckt, die eigene Stadt so an Kultur zu bieten hat? Das kann bedächtig, muss aber nicht verschlafen sein, sondern im Gegenteil: engagiert, bodenständig, mal öffentlich, mal privat und im besten Sinne facettenreich. Wir stellen einige Museen, Gedenkorte, Initiativen der Region vor, die zu besuchen sich lohnen könnte - wenn auch, vielleicht, nicht für jede und jeden.
Dokumentiert ist sein kurzer Lebensweg in der Gedenkstätte des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Lüneburg. Heinz Günter Schulze war eines von geschätzten 5.500 Kindern mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung, die im Rahmen einer geheimen Reichssache ab 1941 aus den Familien genommen und in Pflegeeinrichtungen getötet wurden. Hier in Lüneburg waren es 300 bis 400 Kinder, die ums Leben kamen. In der Regel durch Injektionen von Luminal oder Morphium getötet, auf dem Anstaltsgelände, in den Häusern 23 und 25.
Und dabei fängt in Lüneburg zunächst alles gut an: Ende des 19. Jahrhunderts setzt sich auch in Niedersachsen die Einsicht durch, dass sich psychische Krisen behandeln lassen und dass auch Menschen mit geistigen Behinderungen gut in einer Gemeinschaft leben können, werden sie nur angemessen betreut.
Auf dem einstigen Gut Wienebüttel werden so nach und nach erste Backsteinbauten der 1901 eröffneten "Provincial Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg" errichtet. 1907 leben hier 1.500 Patienten, verstreut auf einem parkähnlichen Gelände. Ziel ist es, die Anstalt möglichst autark zu führen - unter anderem mit einer Tischlerei und einem Landwirtschaftsbetrieb. "Man setzte damals vor allem auf die heilende Kraft des Wassers und so hatten die Häuser der Lüneburger Heilanstalt fast alle fließend warmes Wasser, was in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich war", erzählt Henning Bendler, Historiker und Fachkrankenpfleger. Sinnigerweise hat die Gedenkstätte mit ihren Dokumenten, Fotos und Texttafeln im ehemaligen Wasserturm ihren Platz gefunden.
Und weiter geht die Reise durch die Vergangenheit: Die psychiatrische Reformbewegung gerät bereits in den Zehner Jahren des 20. Jahrhunderts unter Druck. Angeführt von Wissenschaftlern beginnt eine Debatte, wie die sogenannte Geisteskrankheit eliminiert werden könnte, auch um Kosten zu sparen. Das "Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" wird zwar 1934 von den Nazis beschlossen, gedanklich ist es aber in der Ärzteschaft seit längerem vorbereitet. In Lüneburg werden entsprechend Patienten zwangssterilisiert.
Doch dies ist nur der Beginn für einen Feldzug gegen behinderte Menschen, der auch in Lüneburg erst mit dem Kriegsende enden wird: 1941 werden hier rund 500 Patienten aus verschiedenen norddeutschen Anstalten gesammelt, um sie in Tötungsanstalten wie Hadamar weiter zu leiten - im Rahmen der Aktion T4, benannt nach dem Ort, an dem die systematische Tötung behinderter Menschen im April 1940 beschlossen wurde, die Tiergartenstraße Nr. 4 in Berlin. Ebenso gibt es Dokumente, die nahelegen, dass auch in der Lüneburger Heilanstalt zuletzt Neugeborene von Zwangsarbeiterinnen getötet worden sind.
Dabei zeigt die Ausstellung auch, dass das System nur funktionieren konnte, weil es von Seiten der Ärzteschaft Unterstützung kam. Dass es auch anders gegangen wäre, zeigt der Lebenslauf des damaligen Leiters der Landes-, Pflege- und Heilanstalt Göttingen Gottfried Ewald. Obwohl Befürworter der Zwangssterilisationen, stellte sich Ewald später mal offen, mal verdeckt gegen die Anweisungen aus Berlin, behinderte Kinder zu töten - und blieb Direktor seiner Klinik.
Damit die Ausstellung auf Stand bleibt, trifft sich regelmäßig eine kleine Arbeitsgruppe, um weitere Dokumente einzuarbeiten. Auch den Anfragen nach fachlichen Führungen versucht die Gruppe nachzukommen - und stößt dabei langsam an die Grenzen ihrer Kapazität.
Gibt es denn noch viele offene Fragen, noch Forschungsbedarf? "Jede Menge", sagt Bendler. "Es sind zwar viele Krankenakten erhalten geblieben, aber wir können bisher nur in den wenigsten Fällen eindeutig nachweisen, dass der dort protokollierte Krankheitsverlauf absichtlich herbei geführt wurde." So wie im Fall des Heinz Günter Schulze. "Von ihm haben wir übrigens durch Angehörige erfahren, die sich eines Tages bei uns meldeten und die uns auch die privaten Fotos zur Verfügung stellen konnten." Und so habe seine Arbeit und die seiner Mitstreiter ein klares Ziel: "Wir möchten den nackten Zahlen Namen und damit Gesichter geben."
Die Lüneburger Gedenkstätte wurde 2004 eröffnet und mittlerweile ist es selbstverständlich, dass örtliche Schüler zur Verfolgung behinderter Menschen im Nationalsozialismus arbeiten und dafür das Material der Gedenkstätte nutzen.
Für Sebastian Stierl, den ärztlichen Direktor der Lüneburger Klinik seit 2007, ist die Welt damit noch nicht in Ordnung: "Wir Mediziner und Pfleger müssen uns gerade heute mit Blick auf die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik und der Debatte um die sogenannte aktive Sterbehilfe immer wieder fragen, ab wann behinderten oder überhaupt andersartigen Menschen die Existenzberechtigung offen oder verdeckt abgesprochen wird."
Stierl hat dabei auch seine eigene Disziplin im Blick und verlangt eine besondere Kontrolle: "Einer meiner ersten Lehrer war ein T4-Gutachter." Und erzählt dann: "Obwohl die Fakten seit Jahrzehnten bekannt sind, hat sich erst im vergangenen Jahr unser Berufsverband, die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, bei den damaligen Opfern und ihren Angehörigen für das ihnen angetane Unrecht entschuldigt."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch