Lage auf dem Ausbildungsmarkt in Berlin: Wirtschaft ruft nach Flüchtlingen
Die Betriebe vermissen die Leistungsbereitschaft vieler Bewerber. Sie würden gern mehr Flüchtlinge beschäftigen. Doch das ist nicht so einfach.
Einen Monat vor Beginn des Ausbildungsjahrs im September sind noch 8.171 Jugendliche auf der Suche nach einer Lehrstelle. Gleichzeitig sind laut den am Donnerstag veröffentlichten Zahlen 5.567 Ausbildungsplätze unbesetzt. Insgesamt wurden dem Berliner Arbeitsamt in diesem Jahr 12.089 Lehrstellenangebote gemeldet, 6,7 Prozent weniger als 2014. Dem standen 18.523 BewerberInnen gegenüber. Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) sagte dazu der taz: „Wir brauchen mehr Ausbildungsplätze. Trotzdem müssen die Zahlen mit größter Vorsicht interpretiert werden. Das Schuljahr ist erst seit wenigen Tagen beendet.“ Viele Jugendliche würden sich erst nach Ende der Ferien um einen Ausbildungsplatz bemühen.
Seit Jahren ist der Berliner Ausbildungsmarkt von zwei sich scheinbar widersprechenden Phänomenen geprägt: Einerseits finden mehr als die Hälfte der suchenden Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz; andererseits bleibt etwa die Hälfte der angebotenen Plätze unbesetzt. Immerhin: Berliner Betriebe bilden wieder mehr aus. So wuchs der Anteil der betrieblichen Ausbildungsplätze um 2,8 Prozent. Allerdings sank dafür die Zahl der außerbetrieblichen Lehrstellen, sodass es insgesamt weniger Azubi-Plätze gibt als im Vorjahr.
Aber auch sonst brauchen sich die Arbeitgeber nicht auf die Schulter zu klopfen: Laut Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin bilden lediglich 13 Prozent der von ihr vertretenen Betriebe aus, die Handwerkskammer kann gar nur 10 Prozent Ausbildungsbetriebe vorweisen. Hier müsse dringend etwas geschehen, sagt Karsten Berlin, Arbeitnehmer-Vizepräsident der Handwerkskammer: „Es gibt einige Betriebe, die nicht ausbilden, aber immer über Facharbeitermangel jammern – und sich dann aus anderen Betrieben, die hochwertig ausbilden, die Leute holen.“
Andere Betriebe wollten ausbilden, könnten aber aus finanziellen Gründen nicht. „Eine Ausbildungsumlage könnte helfen, die Lasten gerechter zu verteilen“, sagt der Gewerkschafter. Beim Baugewerbe, das die Umlage bereits in den 80er Jahren eingeführt hatte, mache man damit gute Erfahrungen, so Berlin. Dirk Kuske, stellvertretender Regionalleiter der IG Bau Berlin, bestätigt das. Durch die solidarische Umlage erhielten die Betriebe einen Großteil ihrer Ausbildungskosten zurück, die Qualität der Lehre sei gestiegen. Ein Anreiz für mehr Ausbildung ist die Umlage allerdings nicht: Nur rund 8 Prozent der Baubetriebe in Berlin hätten Azubis, so Koske. „Da muss mehr gehen.“
Auf der anderen Seite bleiben viele Lehrstellen unbesetzt, weil die Erwartungen von Jugendlichen und Arbeitgebern nicht zusammenpassen. So sind einige Berufe bei jungen Leuten unbeliebt, weil sie schlecht bezahlt werden, einen miesen Ruf haben oder als wenig zukunftsträchtig gelten. Bei einer Umfrage der Berliner IHK gaben 12 Prozent der Betriebe an, sie hätten gar keine Bewerbung für eine ausgeschriebene Lehrstelle bekommen.
Schlechte Mathekenntnisse
Auch die Arbeitgeber haben hohe Ansprüche: In besagter Umfrage erklärten 65 Prozent der Betriebe, die 2014 einen Ausbildungsplatz nicht besetzt hatten, sie hätten keine geeigneten Bewerber gefunden. 54 Prozent bemängelten die Deutschkenntnisse der Schulabgänger, 44 Prozent die Mathekenntnisse. Früher seien diese Zahlen noch höher gewesen, so Thilo Pahl, IHK-Geschäftsführer Aus- und Weiterbildung. „Heute zählen Leistungsbereitschaft, Motivation und Disziplin mehr als Noten. Hier stellen Betriebe die gravierendsten Mängel fest.“
Laut Berliner Arbeitsamt sind die beliebtesten drei Berufe bei Jungen: Kaufmann im Einzelhandel, Kfz-Mechatroniker und Verkäufer. Die Top 3 der Mädchenberufe: Medizinische Fachangestellte, Kauffrau im Büromanagement und Kauffrau im Einzelhandel.
Einige dieser Berufe finden sich auch unter den Top 10 der unbesetzten Ausbildungsstellen, die der Unternehmensverband Berlin-Brandenburg am Donnerstag vermeldete. Danach gibt es in Berlin noch 456 offene Lehrstellen für Kaufmann/-frau im Einzelhandel, 426 für Kaufmann/-frau im Büromanagement, 258 für Koch/Köchin, 219 für Verkäufer/in, 211 für Restaurantfachmann/frau, 195 für Bankkaufmann/-frau, 177 für Gebäudereiniger/in – und 3.296 für „übrige Berufe“. (sum)
Den Mangel an aus Sicht der Betriebe geeigneten Lehrlingen würde die Arbeitgeberseite gerne mit Flüchtlingen ausgleichen. Kürzlich forderte Eric Schweizer, Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer, ein Abschiebeverbot für Flüchtlinge in Ausbildung und in den ersten beiden Jahren nach der Lehre. Auch Berliner Betriebe würden gern mehr Flüchtlinge einstellen, sagt Pahl von der Berliner IHK, „aber häufig scheitert es an unsicheren Aufenthaltstiteln“.
Sein Verband nimmt seit Jahresbeginn teil am bundesweiten Projekt „early intervention“, bei dem die Arbeitsämter bundesweit hoch qualifizierte Asylbewerber, die aus Ländern mit hoher Anerkennungsquote kommen, frühzeitig fördern und zu vermitteln versuchen. Doch das Modellprojekt kommt nur schleppend voran: Laut Senatsarbeitsverwaltung konnten bislang von 600 Projektteilnehmenden nur 16 Menschen in Arbeit und 5 in Ausbildung vermittelt werden.
Auch das Handwerk setzt auf Flüchtlinge. Laut Karsten Berlin von der Handwerkskammer beteiligen sich rund 100 Betriebe beim Projekt „Arrivo“ der Senatsverwaltung. Dabei sollen Flüchtlinge Berufe und Betriebe kennenlernen und über Praktika einen Ausbildungsplatz finden. „Da müssten noch viel mehr Betriebe mitmachen“, findet er – aber die rechtlichen Rahmenbedingungen seien in der Tat schwierig: Oft verweigere die Ausländerbehörde eine Arbeitserlaubnis; und wenn es eine gebe, dann nur für den Zeitraum der Ausbildung, also „ohne Perspektive, im erlernten Beruf praktisch zu arbeiten“.
Die Reaktionen von den Betrieben, die bei Arrivo mitmachen, ist dagegen so positiv, dass es Karsten Berlin fast schon zu viel ist. „Oft höre ich, die Flüchtlinge seien ja viel interessierter als deutsche Jugendliche“, berichtet er. Fast habe er den Eindruck, die Arbeitgeber versuchten, Flüchtlinge gegen hiesige Jugendliche auszuspielen. Das ginge natürlich nicht: „Alle müssen eine Chance bekommen.“
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