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LGBTI in Taksim nach Gezi-ProtestenSelbstorganisation durch Tanzen

Taksim ist schon lange ein Ort von und für LGBTI-Menschen. Unter der Gentrifizierung leiden auch sie. Wie sich eine Bewegung neue Räume erschließt.

In Clubs der LGBTI-Szene gilt eine Null-Toleranz-Politik gegen Diskriminierung und Übergriffe Foto: Şener Yılmaz Aslan

Es ist Frühling geworden in Istanbul. Bei diesen Temperaturen kann man endlich wieder Lederjacken tragen. Den Taksim-Platz zu überqueren, ist anstrengend und chaotisch. Aber die Leute nutzen das schöne Wetter und strömen auf die Straße. Zur rechten Seite ragt die neu gebaute Moschee in den Himmel und wirft ihren Schatten auf den Platz. Genau gegenüber klafft seit dem Abriss des Atatürk-Kulturzentrums eine Baulücke, die aussieht wie eine frische Zahnlücke. Zelte für das Fastenbrechen belegen einen Großteil des Platzes.

Seit 2012 verändert sich das Taksim-Viertel radikal durch Gentrifizierung. Das beeinflusst das Leben der hier ansässigen LGBTI-Menschen. Viele der alten Gebäude wurden geschlossen oder fielen den Abrissbirnen zum Opfer. Als 2013 auch der Gezi-Park einem Einkaufszentrum weichen sollte, entstand aus der Bewegung zum Schutz des Parks eine landesweite Protestbewegung gegen den zunehmenden Autoritarismus der Erdoğan-Regierung.

Die LGBTI-Bewegung hatte schon lange vor 2013 eine enge Verbindung zum Gezi-Park. Diese Verbindung begann 1987, als trans Frauen und homosexuelle Männer sich auf den Treppen des Parks versammelten und aus Protest gegen die Polizeigewalt in den Hungerstreik traten. Der Gezi-Park gehörte zu den beliebtesten Plätzen, an denen trans Frauen und cis schwule Männer anschaffen gingen. Als der Park im Mai 2013 friedlich besetzt wurde, übernahmen veranstalteten Organisationen und Aktivist*innen mit einem improvisierten LBGT-Block Parkwachen.

Seit den Gezi-Protesten von 2013 und der friedlichen Besetzung des Parks auf dem Taksim-Platz durch verschiedenste Gruppen, darunter auch viele LGBTI-Initiativen, ist viel passiert: 2015 und 2016 kamen bei Bombenanschlägen im ganzen Land, darunter zwei in Istanbul, hunderte Menschen ums Leben. Im Juli 2016 gab es einen Putschversuch. Diese Ereignisse haben dazu geführt, dass die Menschen, die ins Taksim-Viertel kommen, die angespannte Sicherheitslage zu spüren bekommen. Viele kulturelle Veranstaltungen wurden abgesagt, Protestmärsche wurden verboten. Trotz allem sind die LGBTI-Personen nach wie vor in Taksim präsent, sie vergnügen und organisieren sich weiter. Und das mit Beharrlichkeit. Als Ergebnis dieser Beharrlichkeit haben rund um den Taksim-Platz ziemlich viele neue LGBTI-freundliche Lokale eröffnet.

Der Taksim-Platz gehört niemandem und jedem

Die Barbetreiberin Üzüm Solak, die jahrelang im queeren Nachtleben von Istanbul unterwegs war und vor drei Jahren in den Gastronomiebetrieb eingestiegen ist, übernahm im Sommer 2018 die Bar Şahika Teras. Anfang der 2000er hat sie wegen ihrer beginnenden Geschlechtsangleichung immer wieder die Organisation LambdaIstanbul aufgesucht, die sich für die Rechte von LGBTI einsetzt, und hat mit der Zeit eine enge Beziehung zur Organisation aufgebaut. Während sie von ihrem Nachtleben und der Organisation erzählt, wird schnell klar, wie eng beide miteinander verknüpft sind.

Aufgrund der Umgestaltung des Taksim-Viertels und der Aktivist*innen-Bewegung, die sich hier ausgeprägt hat, sei es normal, dass die queeren Bewohner*innen eine starke Verbindung zu dem Ort hier haben, sagt sie. „Der Taksim-Platz gehört niemandem und gleichzeitig jedem. Durch die Entwicklungen der letzten Zeit ist hier alles den Bach runtergegangen. Seit viele Ladenbetreiber verdrängt wurden, gibt es hier immer weniger Lokale für ein Publikum wie uns. Die Kultur verändert sich, es findet ein Generationswechsel statt. Aber Taksim ist immer noch ein vielseitiger Ort, deshalb liebe ich es nach wie vor.“

Die Partys in Taksim ersetzen nach und nach die sicheren Räume, die früher Vereine geschaffen haben Foto: Şener Yılmaz Aslan

Eine der wichtigsten Errungenschaften von Lambda war damals, treibende Kraft für die Herausbildung einer Community zu sein. Der Outingprozess, die Vernetzung und die Politisierung der Betroffenen – all das bildete sich wie eine ineinander greifende Spirale in ihrem Rahmen heraus. Während das queere Nachtleben sich früher vor allem im Umkreis kleiner Bars abspielte, breitet es sich heute mit unterschiedlichen Partys in der ganzen Stadt aus.

Zu diesen Partys gehören die Pre-Pride-Veranstaltungen, die jedes Jahr schon im Februar die Pride-Woche im Juni einläuten. Seit Mitte der 2000er werden diese Solidaritätspartys zur Erhaltung politischer Kollektive organisiert und damit sichere Schutzräume für Zusammenkünfte von LGBTI gewährleistet. Schon seit geraumer Zeit geht es der LGBTI-Community im Nachtleben um mehr als nur um das Feiern.

Subkultur durch Nachtleben

Şevval Kılıç, die sich seit den 90er Jahren in verschiedenen Organisationen als trans Aktivistin engagiert, bewegt sich seit Jahren in den Clubs von Taksim. Seit einiger Zeit legt sie als Djane auf LGBT-Partys auf. Für türkische Queers sei es heute profitabel geworden, sich im Nachtleben gut auszukennen, sagt sie. „Wir sind diejenigen, die die aktuelle Musik verfolgen, die sich im Nachtleben auskennen. Wir stellen Regeln für Schutzräume auf, wir sorgen dafür, dass andere sich in Sicherheit fühlen. Wir prägen eine Subkultur und das passiert alles über das Nachtleben.“

„Für Frauen ist es weitaus schwieriger, sich zu treffen und nachts auszugehen“ Foto: Şener Yılmaz Aslan

Bevor man in die Menschenmenge auf dem İstiklal-Boulevard hineingerät, gelangt man durch die Seitenstraßen des Sıraselviler-Boulevards zum Club Roxy. In den ersten Stunden der Party geht es hier relativ ruhig zu, aber zu späterer Stunde tauchen immer mehr Netzstrümpfe, Ketten und Halsbänder auf. Das Roxy gleicht heute Nacht einem unterirdischen Kerker: rote Scheinwerfer, Diskokugeln und überall an den Wänden herausragende menschliche Statuen, die die Tanzenden beobachten. Mit Regeln auf Plakaten überall an den Wänden setzt das Roxy vor allem in den Nächten der Pride-Wochen-Partys ein Zeichen für Null-Toleranz gegenüber Belästigung und Diskriminierung.

Elif Keskinkılıç ist seit Anfang der 2000er sowohl in der Clubkultur, als auch bei LambdaIstanbul und der Pride-Woche aktiv. „Die LGBTI sind der Beweis dafür, dass der Taksim-Platz nicht verloren ist“, sagt auch sie. Umut Rışvanlı, der sich seit vier Jahren bei der Pride Woche engagiert und Partys für die Veranstaltung organisiert, schätzt zwar den Schutzraum, den die Partys bieten, kritisiert aber, dass er sich an den Orten, an denen er sich nachts völlig problemlos aufhalten kann, tagsüber nicht genauso unbeschwert bewegen kann. „Wenn man früher hier herumlief, konnte man im Café Sugar oder in der Haspa Bar in der Nähe des Odakule-Bürogebäudes die Regenbogenfahne sehen. Diese Lokale sind heute noch in Betrieb, aber die Fahne hängt nicht mehr. Wir brauchen auch Orte, an denen wir Tee oder Kaffee trinken können, tagsüber können wir uns hier nicht aufhalten.“

Auch Ecemen, die als Drag-King auftritt und 2006 über die Cocktail-Partys von LambdaIstanbul in die LGBTI-Szene hineingeraten ist, findet es wichtig, dass die Menschen auch außerhalb des Nachtlebens und der Ausgehkultur zusammenkommen können. Seit LambdaIstanbul aufgrund der hohen Miete und der angespannten Sicherheitslage 2014 vom Taksim-Viertel in den Stadtteil Kadıköy umgezogen ist, gebe es keine Bewegung mehr, die sich dafür einsetze. „Ich wünschte, es gäbe ein Kulturzentrum, bei dem jede*r wie bei LambdaIstanbul einfach jederzeit vorbeischauen kann. Partys zu veranstalten ist auch etwas Politisches, aber wirklich politisch ist die Diversität von Veranstaltungen, von Menschen und Musikrichtungen.“

Die Bühne: ein Ort, an dem man sich öffnet

Aktivistin Keskinkılıç fällt Ecemen ins Wort und berichtet von dem neusten Trend der Lip-Sync-Battle-Partys, der gerade in der Drag-Szene und auf Bällen aufgekommen sei, und auf denen der Lip-Sync-Pop bis aufs äußerste zelebriert werde. „Es ist toll zu sehen, wie Menschen sich in ein, zwei Jahren selbst verwandeln. Wenn man einen Raum öffnet, entsteht eine neue Kultur, eine neue Welt. Die Leute schauen sich diese Veranstaltungen drei Mal an, dann springen sie selbst auf die Bühne. Die Bühne wird zu einem Ort, an dem man sich öffnet“, schwärmt sie.

„Wir prägen eine Subkultur und das passiert alles über das Nachtleben“ Foto: Şener Yılmaz Aslan

Obwohl auch Ecemen diese Partys als ein Zeichen der Hoffnung sieht, bleibt sie gegenüber der Ausgehkultur kritisch und betont, dass das Nachtleben die Menschen auch in Klassen einteile. „Für Frauen ist es weitaus schwieriger, sich zu treffen, nachts auszugehen und einen/eine Partner*in zu finden. Es ist sehr schwer, finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen und Lesben sind in der Gesellschaft immer noch unsichtbar.“ Außerdem bedeute Nachtleben auch, dass man sich den Eintritt für die Lokale und die immer teurer werdenden Preise für alkoholische Getränke leisten können muss, was einige LGBTI nicht könnten.

Der Barbetreiberin Üzüm gefällt es trotzdem, dass sich die Menschen in ihrem Nachtclub feiernd und tanzend begegnen. Leute, die zum ersten Mal in ihr Lokal kommen, seien total überrascht. „Das, was sie vorher so noch nicht erlebt haben, wie sie sagen, ist die Berührung“, so Üzüm. Diese Berührung sei es, die viele Menschen dazu motiviere, im Nachtleben aktiv zu sein. So seien die Partynächte voller hoffnungsvoller Momente.

Sich organisieren durch Tanzen

Aktivistin und Djane Şevval sagt: „Wenn Liebe bedeutet, dass man sich organisiert, dann kann man sich auch durch Tanzen organisieren“. Sie glaubt, auf den Partys werde die Verbindung der Menschen zur Bewegung stärker, und dass sie hier eine tiefere Art des Teilens außerhalb ihres gewohnten Alltags erleben können. Umut Rışvanlı von der Pride-Woche ergänzt: „Hier herrscht eine ganz andere Energie, von einem Moment auf den anderem kann die Partyatmosphäre sich in etwas ganz anderes umwandeln. Plötzlich fängt man an, Slogans zu skandieren. Die Energie ist die gleiche wie die auf dem Protestmarsch. Du hebst ab.“

Ein Brummen erfüllt die Straßen. Jedem Auto, das am Roxy vorbeifährt, rufen die Feiernden „Wo bist du, mein Schatz?“ zu, den Slogan des Pride-Walk. Die Autofahrer*innen scheinen zu bereuen, in diese Straße gefahren zu sein. Dieser Moment reicht vielleicht aus, um die Verbindung zwischen dem Nachtleben und dem Politischen zu erkennen. Mit seinem jahrelang angestauten Aktivismus ist das Taksim-Viertel ein stets brodelnder Ort, der die unterschiedlichsten Veränderungen mitgemacht hat. Und es sieht ganz so aus, als ob das auch weiterhin so bleiben wird.

Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş

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