Kurzfilm „Der Prozess“: Unterm Deckmantel der Zivilcourage
Jan Wildes Kurzfilm basiert auf einem Vorfall im sächsischen Arnsdorf, der 2016 Aufsehen erregte. Es geht um Gewalt aus der bürgerlichen Mitte.
Nach einer Auseinandersetzung sollen die vier Männer ihn gewaltsam aus dem Discounter gezerrt und festgebunden haben. Ein Prozess gegen die mutmaßlichen Täter wegen Freiheitsberaubung wurde kurz nach Beginn eingestellt. Der Grund: Die Strafen im Falle eines Urteils würden zu geringfügig ausfallen. Die Männer hatten ihr Handeln als Notwehr dargestellt.
Trotzdem hat der Regisseur Jan Wilde, 36, sein Kurzfilmprojekt, das von den Arnsdorfer Geschehnissen inspiriert ist, „Der Prozess“ genannt. Denn in seiner Inszenierung findet die Feststellung der Schuld nicht in einem Gerichtssaal, sondern auf dem Netto-Parkplatz statt. Anders als in der Realität, hat der auf dem Parkplatz festgehaltene Mann auch einen Verteidiger, der seine Sprache spricht und mit den Anklägern, also denjenigen, die ihn an dem Baum fixierten, „in eine Prozesssituation eintritt“, sagt Wilde.
Entstanden ist der Kurzfilm in einem Berliner Theatersaal in Zusammenarbeit mit den SchauspielerInnen. Das Projekt ist ein Hybrid aus Spielfilm, dokumentarischen und performativen Elementen – alle Charaktere erzählen in Rückblenden von ihrer Motivation und Rolle in der „Verhandlung“. Fertig werden soll „Der Prozess“ im Frühjahr, aktuell arbeitet Wilde an der Postproduktion.
„Der Prozess“ ist nicht der erste Film, der sich dem Vorfall widmet. Mario Pfeifer, Künstler aus Dresden, stellte im vergangenen Jahr auf der 10. Berlin Biennale „Again/Noch einmal“ vor. Die Produktion setzt sich mit ganz ähnlichen Fragen auseinander, legt dabei aber einen besonderen Fokus auf die mediale Berichterstattung.
Jan Wilde geht es bei seiner Inszenierung um „diese Grenze zwischen Selbstjustiz und Zivilcourage“, sagt er. Und um Gewalt, die nicht von Menschen mit klassisch rechtsextremer Vita ausgeht, sondern von der bürgerlichen Mitte. In seinem Film gelten die an dem Vorfall Beteiligten nicht als besonders politisch, geschweige denn radikal. „Und trotzdem haben sie Denk- und Handlungsmuster des Rechtsextremismus übernommen, ob bewusst oder unbewusst, die sich im Zuge dieses Vorfalls dann Bahn brechen.“
Wilde beobachtet, dass sich Menschen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte den vergangenen Jahren immer wieder ermutigt gefühlt hätten, Grenzen zu überschreiten. „Und da muss man mit Argusaugen draufgucken. Denn wenn sowas wie in Arnsdorf unter dem Deckmäntelchen der Zivilcourage mehrheitsfähig wird, finde ich das wahnsinnig gefährlich.“ Auf einem Videomitschnitt des realen Vorfalls hört man eine Verkäuferin sagen: „Schon schade, dass man eine Bürgerwehr braucht.“ Dass die Gewalt gar als gesellschaftliches Engagement, als bürgerliche Pflicht bezeichnet werde, sei für Wilde Grund gewesen, diesen Film zu machen.
Erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne
Wilde hat „Der Prozess“ ganz bewusst von Arnsdorf in einen neutralen Theatersaal mit computeranimiertem Bühnenbild verlegt, die Verortung völlig aufgelöst. „Man erkennt allein, dass es sich um eine beliebige Vorstadt handelt.“ Das könne irgendwo in Ostdeutschland sein, klar, aber genauso gut auch in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Bayern, sagt Wilde. „Ich will nicht, dass Leute durch den Film in ihrer Auffassung gestärkt werden, dass das ausschließlich ein ostdeutsches Problem ist.“ Rechte Gewalt gebe es im Westen genauso, man denke an Lübcke, man denke an Dorstfeld.
Für die Finanzierung des Projekts startete Wilde im März mit seiner Produktionsfirma „zeitgebilde“ eine Crowdfunding-Kampagne, die vorgesehenen 3.000 Euro waren schnell erreicht. Gefördert wird „Der Prozess“ auch durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, die Sächsische Landesanstalt für neue Medien und das Kulturamt Dresden. Im Frühjahr will Wilde den fertigen Film auf Festivals einreichen und ihn Institutionen für politische Bildung zugänglich machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg
Zu viele Vaterlandshelden