Kurz vor dem Referendum: Zerrissen zwischen Ja und Nein
Bringt das Präsidialsystem die Alleinherrschaft oder Stabilität? Auf der Suche nach denen, die darauf noch keine Antwort haben.
Cihat Ertan ist Stammgast in dem traditionellen Café, wo die Männer Stunden damit totschlagen, „Okey“ zu spielen und aus tulpenförmigen Gläsern Tee zu trinken. Aber in einem Punkt unterscheidet er sich von vielen Gästen: Er weiß noch nicht, wie er beim Referendum am 16. April abstimmen wird.
Dann werden die Wahlberechtigten in der Türkei entscheiden, ob sie ihre unvollkommene parlamentarische Demokratie behalten oder ein Präsidialsystem schaffen wollen, in dem Recep Tayyip Erdoğan mehr Macht über Legislative und Judikative hätte, als irgendein anderer westlicher Präsident.
„Ich kann nicht beurteilen, ob das nur für einen Mann gut ist oder für die ganze Türkei“, sagt Ertan. Damit gehört er zu den rund 20 Prozent, die laut Umfragen noch unentschlossen sind. Und da die Umfrageinstitute Befürworter und Gegner in etwa gleichauf sehen, kommt es genau auf diese Gruppe an.
Die Bedeutung des Referendums ist kaum zu überschätzen. Oppositionspolitiker versuchen, die Menschen mit dem Argument zu überzeugen, für Nein zu stimmen, dass es sonst vermutlich das letzte Mal wäre, dass sie überhaupt demokratisch abstimmen dürfen. Der Europarat würde diese Warnung unterschreiben.
Journalist aus Johannesburg. Arbeitet seit 1997 im Nahen Osten. Seine Artikel erscheinen u.a. bei France24, GRN, al-monitor und der taz.
Seine Verfassungsexperten in der „Venedig-Kommission“ kommen zu dem Schluss, dass Erdoğans Pläne „ein gefährlicher Rückschritt“ seien. Damit würde ein „Präsidialsystem eingeführt, in dem alle Checks and Balances fehlen, die es braucht, um ein autoritäres Regime zu verhindern“, konstatiert die Kommission.
David gegen Goliath
Im Wahlkampf wirft Erdoğan sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale. Die Plakatwände in Istanbul und Ankara sind beklebt mit dem Evet. Nur sehr selten ist ein Hayır-Plakat zu finden. Ein Gesetz, das die staatlichen Medien dazu verpflichtete, allen Parteien in gleichem Umfang Sendezeit für Wahlwerbung einzuräumen, wurde kassiert.
Die NGO Demokrasi İçin Birlik, die das Fernsehen auswertet, berichtete, dass alle TV-Kanäle zusammengenommen in den ersten zehn Märztagen Erdoğan, seiner AKP und der ebenfalls das Ja unterstützenden MHP 486 Stunden Sendezeit einräumten, während die zwei Parteien, die für Nein werben, die kemalistische CHP und die HDP, nur gut 45 Stunden bekamen.
Die unentschlossenen Wähler teilen sich in zwei Gruppen. Zum einen sind es die Nationalisten, zum anderen die Kurden. Sie sind unentschlossen, obwohl die Parteien, die sie vertreten, eine klare Haltung haben. Die Nationalisten stehen der AKP und besonders der nationalistischen MHP nahe. Deren Führer Devlet Bahçeli unterstützt das Ja. Die Parteibasis hingegen neigt zum Nein.
„Ich werde mit Nein stimmen“, sagt ein MHP-Wähler in Etimesgut, einer Hochburg von MHP und AKP in der Provinz Ankara. Der Mann will seinen Namen nicht nennen, was inzwischen häufig ist. „Ich will nicht, dass ein einziger Mann alle Macht hat“, erklärt er. Im selben Café, in dem auch Ertan sitzt, fährt er fort: „Wenn ein Mann alle Macht hat, wird dann der Terror vorbei sein? Wird die Arbeitslosigkeit sinken? Werden die Renten steigen?“ Widerspricht er damit nicht seinem Parteichef? „Ich sehe Bahçeli nicht als Parteichef. Ich wollte jemand anderen“, entgegnet er.
Beflügelte nationalistische Gefühle
Der Elektriker, der neben ihm sitzt, hat kein Problem damit, seinen Namen zu sagen. Er heißt Mustafa Meray, ist auch MHP-Wähler und wird mit Ja stimmen. Seine Begründung: „Was immer mein Parteichef sagt, das mache ich.“ Meray kommt auf Deutschland und die Niederlande zu sprechen, wo türkische Minister daran gehindert wurden, für das Referendum zu werben.
„Deutschland und die Niederlande haben die nationalistischen Gefühle in der Türkei beflügelt“, sagt er. Ertan, der zugehört hat, neigt sich jetzt herüber: „Vor zwei Wochen tendierte ich eher zum Nein. Aber was Europa da gemacht hat, bringt mich eher zum Ja.“
In Diyarbakır, der Hauptstadt der 15 Millionen Kurden in der Türkei, funktioniert diese Masche allerdings nicht. „Erdoğan hat die Krise mit Deutschland und den Niederlanden benutzt, um auf Stimmenfang zu gehen, aber die Menschen in Diyarbakır wussten, dass das Berechnung war“, sagt Salih Baydur, ein früherer Kommunalbeamter, in einem Teegarten im Koşuyolu-Park.
Hier sitzt auch Kadir, ein Dorfvorsteher aus dem Umland. Er zuckt nur mit den Achseln. „In der Westtürkei fühlen sie vielleicht so, weil sie die Fahne verehren. Das tun wir hier nicht“, sagt er.
Alle in Diyarbakır scheinen mit Nein stimmen zu wollen. An einem ganzen Tag voller Gespräche in drei unterschiedlichen Stadtteilen trifft man keinen einzigen Befürworter. Die Kurden kennen womöglich die Details der Verfassungsänderung nicht genau, aber sie wissen, was in Sur passiert ist, der Altstadt Diyarbakırs, und in der Stadt Cizre 180 Kilometer südöstlich. Beide erlebten seit 2015 Monate der Ausgangssperren und Straßenkämpfe zwischen Sicherheitskräften und PKK-Kämpfern.
„Diese Regierung zerstört unser Land“
Bei den Kämpfen in Sur, Cizre und anderen Städten im Südosten wurden etwa 2.000 Menschen getötet, darunter 800 Polizisten und Soldaten. Fast 1.800 Häuser wurden zerstört, berichtete im vergangenen Monat das UN-Menschenrechtsbüro. Cizre wurde von Anwohnern als Ort „apokalyptischer Zerstörung ganzer Stadtteile“ beschrieben, hieß es in dem Bericht.
„Kurden werden mit Nein stimmen“, bestätigt Aydın, ein Gentleman der alten Schule, tadellos gekleidet in einem schwarzen Anzug, weißem Hemd und einen Rosenkranz in der Hand. Beim Gespräch in einer Fußgängerzone will er seinen Nachnamen nicht nennen, aber er sagt: „Wir erkennen diese Regierung nicht an. Sie zerstört unser Land.“
Einer der wenigen unentschiedenen Wähler in Diyarbakır ist Yakob, ein junger Taxifahrer, der sagt, er sei zu 60 Prozent vom Nein überzeugt, weil er „gegen die Alleinherrschaft eines Mannes“ sei. Und 40 Prozent in ihm würden mit Ja stimmen, weil „die Regierung Brücken und Straßen baut und sich um eine verbesserte Müllentsorgung kümmert.“
Aber neun von zehn Kunden, die Yakob fährt, würden mit Nein stimmen, sagt er, weil „sie fürchten, dass sie bei einem Sieg Erdoğans nicht mehr kurdisch sprechen dürfen“.
Werden sie für das Referendum stimmen?
Abseits von Diyarbakır in nordwestlicher Richtung liegt Çermik, eine Stadt voller Betonbauten innerhalb eines wunderschönen Talkessels, umgeben von grünen Weizenfeldern und rosa blühenden Mandelbäumen. 70 Prozent der Bewohner haben bei der letzten Wahl für Erdoğan gestimmt. Werden sie auch für das Referendum stimmen? Ladeninhaber sitzen vor ihren Geschäften in der Hauptstraße, Kartoffelsäcke, Schuhe, Werkzeuge um sie herum. Die Händler rauchen, trinken Tee.
Hacı Karataş fährt ein Sammeltaxi, oder „dolmuş“. Er sagt, er werde mit Ja stimmen, weil Erdoğans neue Verfassung Teil der Erneuerung der Türkei sei, die dem Land schon unter den Ministerpräsidenten Adnan Menderes und Turgut Özal gutgetan habe. „Erdoğan wird kein Diktator werden, denn er wird immer noch gewählt“, sagt Karataş. Die Zerstörungen in Sur und Cizre seien die Schuld der PKK. „Es war ein Fehler, Barrikaden zu errichten.“
Gefragt nach den Zeitungsschließungen und den über 150 verhafteten Journalisten, sagt er, es sei es gut möglich, dass die Regierung Beweise dafür habe, dass diese Journalisten für eine illegale Organisation arbeiten. Schließlich überwache sie Handys und soziale Medien. Minuten später halten Polizisten. Sie wollten nicht, dass Journalisten ohne Akkreditierung nach Çermik kommen und für das Nein werben, sagen sie. Nachdem sie den Presseausweis eingesehen haben, ziehen sie ab.
Politik ist wie Fußball
In einem Café weiter unten sitzt der Landarbeiter Haydi und ist zerrissen. 75 Prozent von ihm möchten mit Nein stimmen, denn „ich unterstütze keine Diktatur“. 25 Prozent von ihm allerdings wollen Ja ankreuzen. „Ich glaube, dass Erdoğan mit der neuen Verfassung etwas Gutes bewirken wird.“
Haydi war sehr betroffen von den Ereignissen in Sur und Cizre, wo eine Familie ihre zwölfjährige Tochter, die von einer Kugel getroffenen wurde, wegen der Ausgangssperre nicht begraben konnte und im Kühlschrank aufbewahren musste.
„Selbst in den größten Kriegen wird es erlaubt, die Verletzten zu bergen, aber in Cizre nicht“, sagt er. Auf die Frage, warum andere in Çermik dennoch mit Ja stimmen würden, sagt Haydi: „In der Türkei ist Politik wie Fußball. Du stehst hinter deiner Partei wie hinter deinem Lieblingsteam.“
Immer wieder sind Wähler zu hören, die nicht verstehen, warum Erdoğan noch mehr Macht braucht. In Etimesgut sagt Gökhan Güngör, ein AKP-Wähler, dass er zwischen Nein und Enthaltung hin- und hergerissen sei: Er glaube nicht, dass seine Stimme irgendetwas ändert.
„Ich würde mit Nein stimmen, denn die Regierung hat schon jetzt die Macht zu tun, was sie will. Wenn Erdoğan sagt, dass er etwas machen will, dann passiert das auch. Es muss also einen anderen Grund für seinen Wunsch zur Verfassungsänderung geben“, sagt Güngör.
Der frühere Chef der Republikanischen Volkspartei CHP, Deniz Baykal, sagte im Januar, er glaube, Erdoğan werde „von der Angst getrieben, vor Gericht gestellt zu werden“. Baykal bezog sich auf den Korruptionsskandal, der im Dezember 2013 öffentlich wurde und der vier Kabinettsmitglieder zum Rücktritt zwang. „Erdoğan will sicherstellen, dass es unmöglich wird, ihn zur Verantwortung zu ziehen“, sagte Baykal.
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