Kurdische Politikerin in der Türkei: „Ich könnte jeden Moment verhaftet werden“
Ayşe Serra Bucak ist Co-Bürgermeisterin der Stadt Diyarbakır – und Kurdin. Jüngst wurden drei kurdische Politiker des Amtes enthoben, doch sie will weitermachen.
Die türkische Justiz ist in den vergangenen Jahren gegen Tausende kurdische Politiker*innen mit dem Vorwurf vorgegangen, diese stünden der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahe. Die türkische Regierung hat aufgrund dieses Vorwurfs etliche gewählte kurdische Bürgermeister und Stadträte durch staatlich ernannte Zwangsverwalter ersetzt, die der Regierungspartei AKP nahestehen.
taz: Frau Bucak, beim Reingehen in das Rathaus von Diyarbakır begrüßen einen zwei großflächige Banner, auf denen auf Kurdisch und Türkisch steht: „Das Rathaus gehört uns, wir erlauben niemandem, es uns zu nehmen.“ Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie durch einen Zwangsverwalter ersetzt werden?
Ayşe Serra Bucak: Es ist ziemlich gefährlich, hier Politik zu machen, vor allem in der Kommunalpolitik. Denn anders als bei den Abgeordneten im Parlament haben wir keine Immunität, die uns schützt. Die Festnahmen passieren meistens um fünf Uhr in der Früh. Ich kenne Kollegen, die deswegen um diese Uhrzeit immer fertig angezogen sind, um nicht in Pyjama abgeführt zu werden. Auch ich muss davon ausgehen, dass ich jeden Moment verhaftet werden könnte.
Es ist schließlich auch meinen beiden Vorgängern nach den Wahlen von 2015 und 2019 so ergangen. Ich bin mir sicher, dass in Ankara fleißig an meiner Akte geschrieben wird. Und wenn es ihnen politisch passt, werden sie diese Karte ziehen. Dann werden sie irgendeine Teilnahme an einer Demonstration oder ein Statement gegen mich verwenden. Die Zwangsverwaltung kann jeden Tag kommen.
gehört der pro-kurdischen DEM-Partei an. Sie ist im März dieses Jahres gemeinsam mit ihrem Parteikollegen Doğan Hatun zur Bürgermeisterin von Diyarbakır gewählt worden, einer der größten Städte im Südosten der Türkei. Das Co-Bürgermeister-System ist ein Modell, das die Partei zur Förderung der Geschlechterparität eingeführt hat. Bucak spricht fließend Deutsch, weil sie in den Neunzigerjahren mit ihren Eltern nach Bremen kam. Sie studierte in Köln und engagierte sich in kurdischen und linken Studentengruppen. Seit 2006 ist sie zurück in Diyarbakır.
taz: Jüngst wurden in Städten nahe Diyarbakırs drei Bürgermeister*innen Ihrer Partei abgesetzt. Ihnen wird Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Terrorpropaganda vorgeworfen. Was wissen Sie zu den Hintergründen ?
Bucak: Die Akten sind nicht öffentlich, deshalb wissen wir nicht, worauf sich diese Vorwürfe stützen und kennen keine Zeugenaussagen oder Beweise. Es gibt keine Urteile, die Gerichtsverfahren haben teilweise nicht mal angefangen. Das ist alles sehr intransparent und willkürlich und zeigt uns, dass die Prozesse politisch motiviert sind.
taz: Welches Ziel der Regierung vermuten Sie dahinter?
Bucak: Wir als kurdische Partei sind zu erfolgreich geworden. In den vergangenen zwanzig Jahren haben wir immer mehr Kommunen gewonnen. Unsere Politik stärkt die kurdische Identität, Sprache und Kultur. Das steht im Gegensatz zur islamistischen Ideologie der Regierung.
Ayşe Serra Bucak
Deshalb hat sie 2016 ein Gesetz erfunden – ich sage ganz bewusst erfunden –, um uns zu schwächen. Bis dahin war dieses Vorgehen auf kommunaler Ebene noch nicht möglich. Wenn etwa ein Bürgermeister wegen einer Korruptionsaffäre sein Amt verlassen musste, wurde der Nachfolger vom Stadtparlament gewählt. Das neue Gesetz ermöglicht der Zentralregierung, einen Gouverneur oder Regierungsvertreter einzusetzen, der die Verwaltung der Stadt übernimmt. Das untergräbt die demokratische Legitimation gewählter Vertreter und verstärkt Spannungen zwischen der kurdischen Bevölkerung und der Zentralregierung.
taz: Wie zeigen sich diese?
Bucak: Hier im Südosten der Türkei, ebenso wie in Istanbul, haben Tausende demonstriert. Sie sagen: Wir sind zu den Wahlen gegangen, haben unsere Stimme abgegeben und jetzt wird unser Wille ignoriert. Das ist demütigend, das vergessen wir nicht. Diyarbakır stand ebenfalls acht Jahre lang unter Zwangsverwaltung, bevor mein Co-Bürgermeister und ich ins Amt kamen. Die Bevölkerung hat den Zwangsverwalter aus Ankara nie akzeptiert. Sie haben das Rathaus gemieden und kamen hier nicht rein, um Fragen zu stellen. Denn sie wollten mit dem Gebäude und den Beamten nichts zu tun haben. Für sie war das hier nicht mehr Kommunalpolitik, sondern der Staat, der undemokratisch handelt. Das hat zu einer Entfremdung geführt.
taz: Welche Spuren hat die Politik der Kayyum, also der Zwangsverwalter, in der Stadt hinterlassen?
Bucak: Während der Zwangsverwaltung wurde nur das Minimum gemacht. Gerade reinigen wir die Kanalisation und können unseren Augen nicht glauben: Das wurde offenbar acht Jahre lang nicht gemacht. Dabei leben hier mehr als zwei Millionen Menschen, die Stadt ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Aber die Infrastruktur haben sie nicht entsprechend gepflegt oder ausgebaut. All das müssen wir jetzt nachholen.
Auch kulturelle und gesellschaftliche Fortschritte wurden rückgängig gemacht. Zum Beispiel wurde das Angebot von mehrsprachigen Kindergärten verkleinert, die wir vorher eröffnet hatten. Bilinguale Veranstaltungen, die es auf Kurdisch und Türkisch gab, wurden nur noch auf Türkisch abgehalten. Man hat gemerkt, dass die Zwangsverwalter keine Lust haben, Dienstleistungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu bringen. Das war eine gezielte Politik, die die Bindung der Bevölkerung zur kurdischen Identität schwächen sollte.
taz: Nur eine Woche vor der jüngsten Absetzung der prokurdischen Bürgermeister*innen hatte Erdoğ ans ultrarechter Bündnispartner Devlet Bahç eli von der MHP einen neuen Friedensprozess mit der PKK vorgeschlagen. Wie passt das zusammen?
Bucak: Dass Devlet Bahçeli den seit 1999 inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan ins Parlament eingeladen hat, war ein Novum. Wir versuchen auch noch, die Strategie dahinter zu verstehen. Es sind mehrere Szenarien möglich: Es könnte daran liegen, dass sich die beiden Regierungsparteien selbst nicht einig darüber sind, welche Politik sie verfolgen. Das Ziel könnte aber auch sein, die größte Oppositionspartei CHP weiter zu spalten, indem sie das Lager der nationalistischen Stimmen, die eine Koalition mit unserer Partei ablehnen, stärken.
Nicht zu vergessen ist auch, dass Erdoğan eine neue Verfassung anstrebt, die ihm eine erneute Wiederwahl ermöglicht. Bisher fehlt ihm jedoch im Parlament die nötige Zweidrittelmehrheit. Dafür braucht er die Unterstützung der Kurden. Aber ich persönlich denke, das ist zu spät. So geht es nicht.
taz: Wie müsste der Friedensprozess Ihrer Meinung nach aussehen?
Bucak: Für einen Friedensprozess ist es sehr wichtig, dass mehrere Gesprächspartner von beiden Seiten am Tisch sitzen. Es geht hier um einen mehr als 100 Jahre alten Konflikt und um Tausende politische Gefangene, darunter unseren Ex-Co-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş. Wir wollen außerdem, dass die kurdische Identität und Sprache in der Verfassung anerkannt werden. Es geht aber auch um Frauenrechte, Gleichberechtigung, um ein friedliches Miteinander.
Ich sehne mich danach, mit den verschiedenen Völkern, die es in der Türkei gibt, friedlich und ohne Konflikte zusammenleben zu können. Wir fordern eine Rückkehr zur Demokratie, die Einhaltung von Menschenrechten. Es braucht eine Versöhnung von beiden Seiten und das wird nicht einfach sein. Aber ich habe Hoffnung. Wenn wir die feindliche Rhetorik ablegen würden, wäre das schon mal ein erster Schritt, der einen großen Effekt hätte.
taz: Sie haben in Köln studiert, hätten auch in Deutschland bleiben und arbeiten können. Warum haben Sie sich für eine politische Karriere in der Türkei entschieden – die für Sie als kurdische Oppositionspolitikerin hinter Gittern enden kann?
Bucak: Ich komme aus einer politischen Familie, mein Vater war Menschenrechtsanwalt und wurde aufgrund seiner Arbeit in der Türkei verfolgt. Deswegen sind wir nach Deutschland geflohen. Es war eine prägende Zeit, erst in Deutschland habe ich zum Beispiel Kurdisch gelernt, weil meine Mutter die Sprache wegen der türkischen Assimilationspolitik nicht konnte.
Trotzdem war mir von Anfang an klar, dass ich zurück in die Türkei und in die Politik will. Ich spüre eine tiefe Verbindung zu meiner Heimat und meiner kurdischen Kultur. Und ich habe die Hoffnung nicht verloren, dass es eine friedliche Lösung geben wird. Das Bürgermeisteramt gibt mir die Möglichkeit, das System besser zu machen, demokratischer und freier. Das gibt Kraft, auch wenn ich mich damit in Gefahr bringe.
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