Kuratorin Kunstbiennale Venedig: „Räume aufmachen statt verengen“

Die Kuratorin Çağla İlk wird Deutschland auf der 60. Kunstbiennale 2024 in Venedig repräsentieren. Die taz durfe ihr drei Fragen stellen.

Eine Frau schaut in die Kamera.

Çağla İlk kuratiert den Deutschen Pavillon bei der Kunst-Biennale in Venedig Foto: Uli Deck

wochentaz: Frau İlk, während man sich im Kulturbetrieb gerade darüber zerwirft, wie sich in den gegenwärtigen Krisen zu positionieren sei, geben Sie Ihr künstlerisches Konzept für den deutschen Beitrag auf der diesjährigen Venedig-Biennale bekannt – und viele scheinen aufzuatmen angesichts Ihrer Wahl. Warum?

Çağla İlk: Ich kann schwer ahnen, warum die einen „aufatmen“ und andere nicht, aber ich spüre, dass wir uns als Menschen, insbesondere in Zeiten der humanitären Krise, nach Orten des Zusammenhalts sehnen. Orten, an denen wir zusammenfinden, über Vergangenes, Gegenwärtiges und die Zukunft frei sprechen können. Orten, die uns daran erinnern, was es bedeutet, Mensch zu sein – in aller Ungewissheit. Für mich liegt ein erster Schritt darin, an dem Gedanken des Zusammenarbeitens festzu­halten.

Wir werden in Venedig versuchen, Räume aufzumachen, statt sie zu verengen. Es gibt angesichts der multiplen Krisen wenige Anlässe zum „Aufatmen“. Wenn es uns gelingt, einen Ort zu schaffen, an dem wir atmen können, wäre schon viel erreicht.

„Thresholds“ (Schwellen) ist Titel und Thema des deutschen Beitrags in Venedig, und es ist auch ein sehr viel diskutiertes Motiv in der Architektur. Dann handelt es sich zumeist um Räume des Übergangs, etwa die Zone zwischen Gebäude und Umgebung, zwischen Stadt und Land, zwischen Staaten. Auch Sie sind Architektin. Um welche Schwelle wird es Ihnen auf der Kunst­biennale gehen?

kuratiert den Deutschen Pavillon der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig, die am 20. April eröffnet. İlk, geboren 1976 in Istanbul, ist Co-Direktorin der Kunsthalle Baden-Baden. Bekannt wurde die ausgebildete Architektin in Berlin mit interdisziplinären Produk­tionen des post­mi­gran­ti­schen Theaters.

Kein Beitrag für den deutschen Pavillon kann der faschistischen Architektur des Pavillons entkommen. Dieses Gebäude spricht die Sprache einer Ideologie von Endgültigkeit und Ewigkeit. Mit „Thresholds“ setzen wir der statischen Machtgeste des Hauses drei Szenarien entgegen. Thresholds, das soll die Perspektive unserer Be­su­che­r:in­nen sein. Die Schwelle interessiert uns als Punkt zwischen einer Vergangenheit, die verschwindet, und einer Zukunft, die ich noch nicht betreten habe. Räumlich bedeutet Thresholds in unserer Arbeit das Infragestellen von nationalstaatlichen Konstruk­tio­nen und eine Sehnsucht nach Deterritorialisierung der politischen Fantasie.

Wir erleben gerade in Deutschland, wie extrem Menschen in einem nationalstaatlichen, territorialen Denken verhaftet sein können, das unseren Diskurs über Geschichte und damit auch über Zukunft beherrscht. Wir werden das nicht ändern, aber wir können zumindest andere Vorschläge machen. Veränderung fängt da an, wo ich mir der Vorläufigkeit meiner Position bewusst werde. Der Ort dafür ist die Türschwelle zwischen zwei Räumen. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir den Pavillon entgrenzen können und auf La Certosa einen zusätzlichen Ort bespielen und die Mauern verlassen.

Wie kamen Sie zu der Auswahl der sechs Künstler:innen, von denen kaum ei­ne:r den klassischen bildenden Künsten zuzuordnen ist?

Mit allen Künst­le­r:in­nen verbindet mich eine langjährige, vertrauensvolle und glückliche Zusammenarbeit! Aber das war nicht der einzige Grund. Für den deutschen Beitrag in Venedig habe ich nach Künst­le­r:in­nen gesucht, die transdisziplinär arbeiten, unterschiedliche Bereiche in ihre künstlerische Praxis integrieren: Wissenschaft, Geschichte, verschiedene performative Formen, Klang, Musik. Vielleicht bin ich da hoffnungslos „geschädigt“ vom Thea­ter, aber ich kann diesen Gedanken des Zusammenarbeitens und gemeinsamen Denkens einfach nicht lassen.

Mit Jan St. Werner, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Michael Akstaller werden sich vier Künst­le­r:in­nen auf unterschiedliche Art mit der akustischen Entgrenzung von Räumen beschäftigen. Im Deutschen Pavillon kommen mit Yael Bartana und Ersan Mondtag zwei Künst­le­r:in­nen zusammen, für die die Auseinandersetzung mit den zeichenhaften Fragmenten der Vergangenheit und die politische Auseinandersetzung mit den Bildwelten der Gegenwart auf extrem unterschiedliche Art wesentlich ist. Ich habe nach Grenz­über­schrei­te­r:in­nen gesucht, und ich glaube, ich habe sie gefunden!

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