Kurator über neue türkische Kunstszene: „Das hat etwas Erstickendes“
Der Kurator Vasif Kortun über die Kunst im Zeitalter der Nachöffentlichkeit, die Furcht vor einer Islamisierung und das gute Brot in Istanbul.
taz: Herr Kortun, erinnern Sie sich noch an das Jahr 1992?
Vasif Kortun: Sehr gut sogar.
Sie kuratierten damals die Istanbul-Biennale. Sie gilt als ein Nukleus der neuen türkischen Kunstszene.
Die Kunstszene damals war ganz anders konstruiert. Als ich nach meiner Ausbildung aus Amerika kam, gab es nur sehr wenig Institutionen, die zeitgenössische Kunst unterstützt haben: ein paar Galerien, eine Akademie für Bildende Künste, die Marmara-Kunsthochschule, die sich am Bauhaus orientierte. Trotzdem war es eine sehr gute Zeit.
Heute ist Istanbul eine international gefragte Kunststadt. Wie erklären Sie sich diesen Aufstieg?
Ich bin nicht sicher, ob es so spezifisch mit Istanbul zu tun hat. Es hatte auch mit der generellen Situation nach 1989 zu tun. Die Mauer in Berlin war gefallen. Es war das Ende vieler Diktaturen. Überall begannen sich die Menschen mehr an der Gesellschaft als am Staat zu orientieren: in Russland, auf dem Balkan. Die Globalisierung hatte einen starken Einfluss.
geboren 1958, einer der wichtigsten Kuratoren für türkische Gegenwartskunst, ist Gründungsdirektor des SALT-Zentrums für Kunst, Architektur und Wirtschaft in Istanbul.
1992 und 2005 kuratierte er die Istanbul-Biennale, 2007 dann den türkischen Pavillon auf der Bienneale von Venedig. 2004 erschien der Band: „Szene Türkei: Abseits, aber Tor!“ (zusammen mit Erden Kosova).
Die Türkei öffnete sich auch …
Einige Staatsinstitutionen begannen sich aufzulösen. Es war vieles in Bewegung damals. Es entstanden viele unabhängige Initiativen.
Ist denn die Akzeptanz für Kunst in der Gesellschaft derart gewachsen?
Sagen wir so: Kunst ist auf jeden Fall mehr zu einer Mainstream-Haltung geworden.
Hatte die damals die Funktion einer Ersatzöffentlichkeit?
Seit der Gründung der Republik zu Beginn der 20er Jahre dominierte der klassische öffentliche Intellektuelle linkshumanistischer Prägung die türkische Öffentlichkeit …
Und in den 90ern änderte sich das?
Ja. Die Essentials der Republik wurden damals infrage gestellt. Die Leute reisten mehr. In den 70er Jahren war das unmöglich. Es war die Zeit der Ölkrise, des Embargos nach der Zypern-Krise. In den Achtzigern begann sich das zu ändern. Zu Beginn der 90er Jahre kam dann René Block aus Deutschland, Beral Madra kuratierte 1994 ihre wichtige Ausstellung „Iskele“ in Deutschland.
Es folgten die Staatsausstellungen für Kunst. Mit dem Beginn der Gespräche über den EU-Beitritt der Türkei normalisierte sich die Situation vollends. Die Kunstszene orientierte sich an feministischen, politischen und postkolonialistischen Ansätzen, begann Fotografie, Installation und Alltagsgegenstände in ihre Arbeit zu integrieren. Es entstand ein neuer, international erfahrener Künstlertypus.
War die Szene damals nicht kritischer?
Ja. Damals hatten wir noch Zeit. Wir saßen oft zusammen und sagten Nein zu einer Menge von Dingen. Wir kehrten die Dinge von innen nach außen. Wir stellten uns die Frage: Wo stehen wir in dieser Welt? Wir, das waren Künstler wie Bülent Cangar, Aydan Murtezaoglu oder der Autor Erden Kosova.
Ist die Expansion des Kunstsystems seitdem ein Indiz für ein Erstarken der Aufklärung?
Diese Expansion hat mit vielem zu tun. Ein Grund ist die Liquidität. Es ist mehr Geld im Spiel. Auch viele Banken und Unternehmen legten sich Kunstplattformen zu.
In Westeuropa grassiert die Furcht vor einer Islamisierung der Türkei. Die Kopftuchpolitik, die Alkoholverbote. Wie bringt man diese gegenläufigen Tendenzen auf einen Nenner – mehr Kunst, aber auch mehr Repression?
Ich habe viele Probleme mit der Regierung. Aber der Islam ist ehrlich gesagt keins davon. Wir betrachten die Regierung hier nicht als eine islamische. Und mit dem Wort Islamisierung beziehungsweise der Angst vor ihr lässt sich die Komplexität dieses Landes nicht erklären. Religion spielt überall in Europa eine größere Rolle: von Polen über Ungarn bis nach Russland. Und bei dem Streit über das Kopftuch geht es um Freiheit. Sie wollen den Leuten erlauben, zu tragen, was sie wollen. Die Türkei hat einen religiösen Kern. Damit muss man hier leben. Meine Sorgen begännen erst, wenn jemand mein Alltagsleben zu regulieren begänne. Aber ich sehe nicht, dass das passiert.
Aber die Regierung begünstigt die religiösen Strömungen. Die Predigerschulen zum Beispiel?
Damit hat nicht die gegenwärtige Regierung angefangen. Sondern die von Suleyman Demirel. Das resultiert schon aus der Zeit unmittelbar nach der Militärdiktatur. Aber schauen Sie sich die Kulturszene dieser Stadt an. Keine der großen Institutionen, die hier entstanden sind, favorisiert irgendetwas Religiöses. Natürlich könnte der Staat mehr für die Kultur und den öffentlichen Sektor tun. Aber die Idee der alten Öffentlichkeit ist überall verschwunden. Nicht nur in der Türkei. Wir erleben ein seismisches historisches Beben. Wir leben in einem Zeitalter der Nachöffentlichkeit.
Was soll das heißen?
Wir leben in einer Ära prä 1750 und post 89. Die Öffentlichkeit und der öffentliche Sektor sind keine gegebenen Größen mehr. Wir müssen sie neu erfinden. Aber das ist kein lokales oder regionales Problem.
Zurück zur Türkei. Sie sehen auch nicht die Gefahr eines autoritären Regimes? Jetzt will die AKP-Regierung sogar ein Präsidialregime einführen.
Ich hasse es, zugeben zu müssen, dass in der Türkei mehr Demokratie existiert als jemals zuvor: Was Institutionen anbetrifft, was das Recht anbetrifft, seine Rechte vor Gericht zu verfolgen, das Unterrichten der kurdischen Sprache ist erlaubt. Wir bewegen uns nach vorne. Die Abwesenheit von Gegenmacht hat etwas damit zu tun, dass die Mehrheit im Land sehr glücklich mit dieser Regierung ist. Aus dieser Haltung bezieht die Regierung ihre Arroganz und ihre Stärke.
Oppositionelle kritisieren die willkürlichen Verhaftungen. Ist die Türkei eine heimliche Diktatur?
Es gibt nichts, was nicht besser gemacht oder geändert werden könnte. Aber es ist nicht die Zeit für generelle Opposition. Jedes Problem, jedes Thema muss einzeln ausgehandelt werden. Es geht um Allianzen und Oppositionen gleichzeitig. Es gibt gute Politiken der Regierung. Wir haben zum Beispiel keine genetisch manipulierte Nahrung in der Türkei. Neuerdings gibt es gutes Brot in Istanbul, weil die städtischen Bäckereien organisches Brot herstellen. Die Fischereipolitik. Da stehe ich aufseiten der Regierung. Aber was sie mit unserem Wasser machen und den Staudämmen in Südostanatolien, das ist schlecht. Man muss die guten Sachen unterstützen und die schlechten bekämpfen.
Die Verhaftung von Journalisten zum Beispiel? Immerhin sitzen rund 90 von ihnen in Haft.
Wenigstens ist die Türkei an einer Front die Nummer eins in der Welt. Die Unterdrückung abweichender Stimmen mit allen möglichen Mitteln war der eherne Standard dieses Landes für eine sehr lange Zeit. Das hat etwas Erstickendes und blockiert enorme Potenziale.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem boomenden Kunstsystem der Türkei und deren Regionalmachtambitionen?
Einerseits schon. Aber der imperiale Reflex der Politik und der Reflex der Kunstszene – das sind zwei verschiedene Dinge. Wir haben mit vielen Künstlern der Region kooperiert, bevor sich die Regierung dieser Politik zuwandte. Dabei habe ich viel über die arabische Moderne gelernt. Ich weigere mich auch, alles mit der Kategorie Türkei zu diskutieren. So schauen wir nicht auf die Welt. Unser Haus hier, Salt, ist eine internationale Institution, based in Istanbul sozusagen.
Zumindest die Istanbuler Kunstmesse ist von einer Expansionssucht getrieben.
Das stimmt. Der Markt nimmt überhand. Auf die eine oder andere Art sind wir Teil davon, auch wenn uns das vielleicht nicht gefällt. Aber wir versuchen, dem entgegenzuwirken. Indem wir zum Beispiel mit nichtkommerziellen Institutionen und Initiativen arbeiten. Unsere Archive für die Öffentlichkeit öffnen. Trotzdem sind wir nicht das Korrektiv des Marktes. Das hat sich entkoppelt. Das ist eine neue Situation. Der Markt hat seine Logik. Er ist vollgestopft mit überteuertem Mist. Und es gibt die Logik der guten Sachen.
Ein Bild des türkischen Künstlers Halil Altindere heißt „Portrait of a Dealer“. Es zeigt den Künstler, der dem Galeristen Baras ein Werk über den Kopf haut, das einen Rekordpreis auf einer Auktion erzielt hat. Das ist eine Kritik an der Kapitalisierung der Szene?
Das ist fast eine liebevolle Kritik. Denn diese Kapitalisierung basiert auf einem Konsens. Der Konsens zwischen dem Dealer, der erlaubt hat, dass ihm das passiert. Und dem Künstler.
Ist die Kunst inzwischen auch in der Türkei das liebste Spielzeug der Bourgeoisie?
Das ist auf jeden Fall so. Man hofft natürlich trotzdem, dass sie durch diesen Prozess lernt. Dass die Dummen wegbleiben und einige etwas lernen, was besser für ihr Leben ist wie auch für das Leben anderer Menschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz