Kunstprojekt für Obdachlose: Ein schön gedeckter Tisch
In Neukölln organisiert eine Rentnerin ein Nachbarschaftsprojekt für Obdachlose. Besuch bei einer Kunstinstallation, die auch Helfenden etwas bringt.
Rechts vom Tisch grinst ein mit Luft gefüllter Schneemann samt schwarzer Wollmütze die Passanten an; links auf einer Kommode stehen Thermoskanne, Pappbecher und Milchkarton. Daneben eine 60er-Jahre-Etagere mit Schokokugeln und Butterkeksen. Ein Schildchen, das am Sonnenschirm baumelt, verrät in schnörkeliger Handschrift, worum es sich hier handelt: „Tischlein deck dich – für Obdachlose“.
Es ist zwölf Uhr mittags. Eine kleine Frau im Leopardenmantel, pinkfarbenem Kunstpelz-Hut und ausgebeulter Cordhose wischt mit einem Desinfektionsmittel die freien Flächen ab, holt ein paar belegte Stullen aus ihrem Einkaufstrolley und legt sie in eine der Lametta-Boxen. Ein Mann in zerknitterter Kleidung nimmt sich Kaffee und setzt sich wenige Meter weiter an die Ecke auf ein Stück mitgebrachte Plane. „Er kommt fast jeden Tag. Kürzlich ist er hier zusammengebrochen, kam mit Lungenentzündung ins Krankenhaus“, erzählt die Frau.
„Anneliese“ nennt sie sich für die Journalistin, ihren Nachnamen will sie nicht sagen, auch sonst nicht groß über sich reden, nur dass sie 74 ist und um die Ecke wohnt. „Ich bin nicht Mutter Teresa.“ Sie möchte über ihre Installation sprechen, die sie aus Sperrmüll, Spenden, Gefundenem und Gebasteltem gebaut hat. „Kunst mit sozialem Effekt“ nennt sie das Werk – einen liebevoll gestalteten Freiluftort, an dem Obdachlose etwas zu essen bekommen, manchmal Schuhe, Kleidung oder einen Schlafsack. Eben das, was die Menschen vorbeibringen.
Nachbarn kochen, bringen Essen
In der Nachbarschaft hat sich das herumgesprochen. Rund 20 bis 25 Obdachlose kommen täglich vorbei, schätzt Anneliese – viele von ihnen schliefen in den Zelten entlang der schrägen Uferböschung, die diesen Winter fast wie Pilze aus dem Boden sprossen. „Die meisten sind Junkies“, sagt sie.
Auch auf der Helfer*innenseite scheint sich die Sache zu etablieren. Gerade kommt eine ältere Dame mit rotbraun gefärbten Haaren mit zwei Tüten und packt zwei Kilo Bananen in die Boxen unterm Schirm. Sie schaue mehrmals jeden Tag vorbei, erzählt Anneliese. Die Dame gesellt sich dazu, ihren Namen will auch sie nicht sagen, aber gerne erzählen, dass sie jeden Nachmittag selbst Gekochtes in Gläsern vorbeibringt.
Gestern waren es Nudeln mit Gulasch. „Je nachdem, was ich günstig kaufen kann bei Penny oder auf dem Wochenmarkt. Ich spar mir das vom Munde ab, hab nur ne kleine Rente“, erzählt sie. Aber die Leute täten ihr leid, sie habe selber als Jugendliche auf der Straße gelebt. „Sie werden als Dreck behandelt. Manche sind auch sehr aggressiv, aber auch das kann ich verstehen“, sagt sie.
Auch Anneliese berichtet von Problemen mit manchen Obdachlosen. Einer sei verrückt, habe sie mit einer Eisenstange angegriffen, andere würden sie als „Bettelkonkurrenz“ begreifen und wollten sie deshalb vertreiben. Aber die meisten seien friedlich und dankbar, einige würden selbst mit Hand anlegen, aufräumen, fegen, solche Dinge. Wie zum Beweis kommt ein älterer Herr vorbei, stellt still einen Karton mit vier neuen Kaffeebechern ab und geht. „Der ist selbst obdachlos“, flüstert Anneliese und packt die Tassen in ihren Trolley. „Die muss ich erst zu Hause spülen.“ Gegen 17 Uhr, wenn sie zurückkommt und den täglichen Eimer Suppe in die Warmhaltebox packt, wird sie die Tassen zurückstellen.
Helfen stiftet Gemeinschaft
Eine Frau um die 50 mit Fahrrad stoppt und stellt eine Einkaufstüte auf die Kommode. Wie von Anneliese bestellt, enthält sie eine Packung Kaffee, Margarine, Marmorkuchen, „die haltbaren Landjäger habe ich noch dazugepackt“. Warum sie das mache? Sie arbeite in einem Seniorenheim, erzählt sie, dort habe sie auch die kürzlich verstorbene „Schrippenmutti“ versorgt. Unter diesem Namen war in den 90er Jahren eine Frau bekannt geworden, die geschmierte Brote und Buletten an Nachtschwärmer verkaufte und den Erlös Obdachlosen spendete.
Kaum ist die eine Helferin weg, kommt die nächste, bringt „gerette Backwaren“ von einem türkischen Bäcker aus der Elsenstraße, wie sie sagt. Anneliese sichtet die Tüten, packt einiges in die Lametta-Boxen, anderes kommt in ihren Trolley, den sie gleich nach Hause ziehen wird. „Hiervon haben alle etwas – ich auch, ich habe ja auch nur 300 Euro Sozialhilfe und Rente.“ Dass sie sich mit den Spenden auch ein wenig selbst versorge, stehe aber nicht im Vordergrund, betont sie. „Es geht darum, dass die Leute hier was Schönes finden“, sagt sie und bricht den Marmorkuchen in Stücke, die sie liebevoll auf der Etagere drapiert. Auch dass Helfen Gemeinschaft stiftet und Geselligkeit bringt, spielt eine Rolle.
„Ich möchte das hier keinen Augenblick missen“, sagt Anneliese – und lässt zufrieden die Anfänge ihrer Aktion Revue passieren. Im zweiten Lockdown im November 2020 hatte sie das erste Tischleindeckdich aufgebaut, 200 Meter weiter östlich am Kanal. Es gab Tische, Stühle, Lichterketten, ein Zelt mit Krippe und Jesus-Puppe. Jeden Tag kamen Menschen mit und ohne Obdach zusammen, es gab reichlich Sachspenden, es wurde viel getrunken, gelacht, gegessen. „Es war wie zwei Monate Weihnachten, wunderschön“, erinnert sich Anneliese.
Allerdings hätten „Räuber“ nachts Dinge geklaut, die „Drogis aus dem Görlitzer Park“ hätten versucht, sich breitzumachen. Kurz: der Treffpunkt sei zunehmend vermüllt worden. Da habe sie die Sache selber beendet. „Das war nicht mehr schön für die Anwohner“, erklärt sie.
Andere sollen weiter machen
Vorigen Sommer ging es auf der Hobrechtbrücke wieder los, erst ein Sperrmülltisch, dann mehr Möbel, man traf sich, „es war sehr lustig“. Kurz vor Weihnachten habe aber das Ordnungsamt von Friedrichshain-Kreuzberg erklärt, so gehe es nicht weiter. „Da haben wir die Sachen schnell auf die Neuköllner Seite ans Ufer gebracht.“
Hier lässt man Anneliese bislang machen. Aber so schön es ist: Lange will sie nicht mehr. Sie müsse sich mehr um sich selbst kümmern, habe Ärger wegen ihrer Wohnung, „mehr will ich nicht sagen“. Nur dass sie sich als „Konstruktionskünstlerin“ weiterentwickeln möchte, am liebsten auf einer Waldlichtung. Ihr Tischlein, so hofft sie, deckt sich dann ohne ihre Hilfe. „Die Leute haben ja gesehen, wie es geht.“
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